Über Jahrzehnte hinweg galten die architektonischen Zeugen der Ostmoderne hinsichtlich ihres ästhetischen Anspruchs als eintönig und trist. Das Interesse an ihnen erwachte spät. Heute scheint das gewichtigste Argument für den Erhalt der Bauten ihr drohendes Verschwinden zu sein.
Architektonische Relikte der Schwerindustrie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erfahren im Westen als „Anonyme Skulpturen“ in den letzten Jahrzehnten Anerkennung und Pflege. Sie halten vor Ort die Erinnerung an untergegangene Produktionsformen und die funktionale Vielfalt von Industriebauten wach, mit denen man im laufenden Betrieb in erster Linie Schwerarbeit und Umweltverschmutzung verband. Fotografen wie Bernd und Hilla Becher waren es, die im großen Maßstab, mit langem Atem und systematischem Vorgehen das Auge schulten. Auch nüchterne Zweckbauten, so lernte man beim Vergleichen ihrer zu Tableaus angeordneten Bildfolgen, unterscheiden sich in ihren gestalterischen, funktions- und standortbedingten Varianten. Trotz dieser Vorschule der Aufmerksamkeit scheint sich auch im Fall der Ostmoderne zu wiederholen, was mit der lange ausgebliebenen, schließlich aber doch einsetzenden Wertschätzung für die Industriedenkmäler, einen Vorläufer fand. Recht verspätet, aber jetzt doch deutlich, wendet sich das Interesse auch der Ostmoderne der Chruschtschow-Ära und nachfolgenden Epochen zu, sowie dem Baugeschehen in der DDR. Zunächst gerieten zeichenhafte, ungewöhnliche „Sonderbauten“ in den Blick, repräsentative Gebäude für gesellschaftliche Anlässe, für die mehr Budget und Freiraum vorgesehen war als für den Bau von Wohnanlagen. In ihrer Fremdheit und ihrem gesellschaftlichen Anspruch muten sie heute wie aus der Zeit gefallene Meteoriten an – Frédéric Chaubin erfasste sie 2010 in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion und setzte sie fotografisch in Szene. 2012 widmete das Wiener Architekturzentrum der Sowjetmoderne im Rahmen des Architekturkongresses eine Ausstellung. Ein Jahr zuvor hatte an der Bauhaus-Universität Weimar ein Symposium zum Thema „Denkmal Ost-Moderne“ einen wegweisenden Auftakt gesetzt.
Die Forschungen unseres Jahrzehnts nehmen Spielräume und persönliche Haltung von Architekten in den Blick. Das hat ein Stück weit rehabilitierenden Charakter. Die Menschen hinter der Planungsmaschinerie erhalten als durchaus engagierte und zuversichtliche Architekten Namen und Gesicht. Sie hatten zwar mit rigiden Vorgaben zu kämpfen und mit wenig sinnlichen Bau-Materialien auszukommen. Dennoch gelang es öfters – mit manchmal nur geringen Abweichungen vom Standard – den Rahmen des Zusammenlebens der Bewohner mit „armen“ Lösungen etwas anders zu gewichten und damit angenehmer zu gestalten. Sie bleiben dennoch Varianten innerhalb des seriell Modularisierten, wobei in den zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion auch regionale Elemente in die Gestaltung einfließen durften.
Ornamente und Mosaiken
Das heutige Interesse für die feinen Unterschiede setzt auf Differenzierung und retrospektiv erworbene Kennerschaft. Denkmalpflege, Architekturhistoriker und Fotografen stehen im Fall der Ostmoderne vor einer schwierigen Aufgabe: spezifische Eigenheiten, die im Überdruss angesichts der ungeliebten Hinterlassenschaft lange übersehen wurden, sind ausfindig zu machen und in ihrer Gesamt-Aussage zu begreifen. Die Architekten Martin Maleschka und Philipp Meuser zum Beispiel nehmen Ornamente in den Blick.
Meuser erfasst die von islamischen Formen inspirierte Fassadengestaltung in Taschkent, Martin Maleschka fotografiert Moasikarbeiten, Kacheln und brutalistisch inspirierte Betonbauten in Ostdeutschland. Selbst in einem Plattenbau aufgewachsen, erfreut sich Maleschka an der Proportion der (in Ostdeutschland am häufigsten eingesetzten) Großplatte WBS 70 und der charakteristischen Sichtbarkeit der Fuge in ihrer vertrauten Rasterung. Ebenso schätzt er geometrisch ausgerichtete grafische Elemente der Wandgestaltung, skulpturale „Kunst am Bau“. Hier ist eine in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzende Bildsprache am Werk: In ihrer Klarheit, schieren Größe, Dynamik und Farbwahl hat sie Kindheitserinnerungen geprägt. Bei manch einem ehemaligen Bewohner hat sie lebensgeschichtlich einen nicht nur als negativ empfundenen, Nachhall hinterlassen. Und hegen nicht gerade Kinder eine besondere Freude am Ornament, das sie in seiner verlässlichen Wiederkehr auch zu Ausflügen in die Welt der Fantasie, zu kleinen gedanklichen Abschweifungen einlädt, die ein Stück kindlicher Identität ausmachen? In der „Berliner Chronik“ ist dies zum Beispiel von Walter Benjamin für langweilige Schulstunden beschrieben worden, es mag auch für die Ornamente der Ostmoderne gelten.
Von Schrauben und Klingelknöpfen
Zieht man aus, die feinen Unterschiede im nur scheinbar Allzugleichen zu entdecken, gilt es das massenhafte Auftreten gleichartiger Bauformen als genuines Kriterium für ästhetische Wertlosigkeit zu durchbrechen. In den Blick genommen wird der sorgfältig begutachtete Einzelfall, der vom Abbruch und den nicht immer gelungenen Verschönerungsbemühungen verschont geblieben ist. Man versucht eine Anlage möglichst im Originalzustand aufzuspüren und dann zu vermitteln, wie sich kleine Details zu einem stimmigen Ganzen im Ensemble schließen. Bald aber stellt sich ein Problem, ähnlich dem, das wir bei heute als allzu radikal empfundenen Restaurierungsmassnahmen des 19. Jahrhunderts mit dem Verdikt des „Totsanieren“ belegt haben. Ist die Gestalt eines Baukörpers mit der jeweilig aktuellen Formensprache des Sanierers weitgehend überschrieben, wird es später schwierig, das einstige Zusammenspiel der Elemente zu erkennen. Und dieses kann wohldurchdacht gewesen sein: Etwa bei der ersten Generation von Großplattenbauten in der Berliner Karl-Marx-Allee, wie Gabi Dolff-Bonekämper einem Filmteam der Wohnbaugesellschaft Mitte ihre diesbezüglichen Forschungen darlegt. Von der Schraube bis zum Klingelknopf war alles zuvor vom Architekten auf einer Zeichnung festgehalten worden, großer Wert wurde auch auf die typografische Gestaltung der Hausnummern gelegt. Jedes Detail trägt so die ästhetische Signatur der Epoche, die in ihrer Eigenheit und der spezifischen Aussage ihrer Materialien erst wieder aus den Relikten erschlossen werden muss.
Sanieren nach den ästhetischen und energetischen Bedürfnissen der eigenen Zeit und der Erhalt der historischen Formensprache sind gegenläufige Prozesse. Jede Gegenwart muss neu darüber nachdenken. Die Situation verschärft sich, wenn wie im Fall der sozialistischen Architektur erschwerend hinzukommt, dass die zur Debatte stehenden Bauten zunächst nur als in Beton gegossener Ausdruck einer überwundenen Herrschafts- und Gesellschaftsform betrachtet wurden – und überdies Geldmangel und finanzielle Interessen von Investoren zu schnellen Entscheidungen drängen. Ob das Erbe der sozialistischen Architektur als städtebaulich verfehlt oder exemplarisch erhaltenswertes Ensemble und Ausdruck einer Zeit verstanden wird, ob innerstädtische Freiflächen als zu groß und gleichförmig oder als harmonische Entsprechung zu hohen Wohntürmen begriffen werden – das kann möglicherweise einen biografisch verankerten Hintergrund haben: ähnlich wie die Vorliebe oder Abneigung gegenüber dem Blick in die Ferne, der sich einem in der norddeutschen Tiefebene eröffnet. Der dort Geborene begrüßt die flache Landschaft als wohltuend weit. Derjenige hingegen, der in einem von Hügeln durchzogenen Landstrich aufgewachsen ist, empfindet den freien Blick eher als eintönig, da sich dem umherschweifenden Auge kein visueller Halt bietet.
Mediale Vermittlung
Neben frühen Prägungen in der Kindheit ist solch unterschiedliche Wertschätzung aber auch durch mediale Vermittlung beeinflusst: Wer Fotografien von Stadtansichten und Wohnanlagen betrachtet, wird geleitet von der Aufnahmetechnik und den kulturellen Sehgewohnheiten einer Zeit. Bilder aus den Sechziger Jahren betonen in Ost wie West das Ordentliche und Aufgeräumte, die augenfällige Geometrie einer Anlage. Vorfabrizierte Bauformen in großen Wohnkomplexen waren einst Hoffnungsträger der Moderne: Standardisierten Komfort für alle, zu erschwinglichen Preisen, versprach man sich.
Heute hingegen werden die Details und das Ungewöhnliche, Herausspringende und Uneingelöste der Träume vom besseren Leben gezeigt. So in Roman Bezjac’s Projekt „Socialist Modernism“, das den baulichen Zustand der Nuller Jahren in den Staaten des ehemaligen Ostblocks fotografisch festhält. Gerne wird in den Blick genommen, was die Bewohner aus ihrem Wohnumfeld gemacht haben: Einfamilien-Würfel-Häuser in Ungarn, mit Farbe und ornamentalen Verzierungen nach individuellem Gusto verschönert (der größeren Plausibilität zuliebe auf ihren Fotos digital nachbearbeitet) zeigt Katharina Roters. Manch eine individuell zusammengetragene Einrichtung eines heutigen Wohnzimmers im standardisierten Grundriss des Plattenbautyps „P 2“ erscheint skurril, studiert man die Aufnahmen von Susanne Hopf und Natalja Meier. Betont vorläufig hingegen muten die minimalistischen Lösungen der Kreativen an, die in Imagekontexten (wie dem gut gemachten Portal zum Plattenbau www.jeder-qm-du.de) vorgeführt werden. Auf städtebaulicher Ebene zeichnet sich in ostdeutschen Städten ein Hang zur vormodernen Kleinteiligkeit und zum Verstecken der genuinen Formensprache der Ostmoderne ab: Großzügig konzipierte oder auch als monoton empfundene Freiflächen werden verdichtet und zugebaut, kleinräumige städtebauliche Vorkriegssituationen nachträglich wiederherzustellen versucht. So geraten Mosaike, Wandbilder und Sonderbauten, auf denen einst der frei schweifende Blick weilen konnte, in eine planerisch so nicht vorgesehene Hinterhofsituation.
Unversehrt gebliebene Zeugnisse einer Epoche, die ein Gefühl für das Ganze und seine Konzeption vermitteln, erhalten sich unter solchen Umständen nicht, bestenfalls wird exemplarisch archiviert– mit spät erworbenem Fingerspitzengefühl und mühsam gewonnenem Distinktionsvermögen.
Fotografen: Frédéric Chaubin: CCCP Cosmic Communist Constructions photographed, Taschen 2011; Roman Bezjak: Socialist Modernism, Hatje Cantz 2011; Susanne Hopf, Natalja Meier: Plattenbau Privat, 60 Interieurs, Nicolai 2004; Katharina Roters: Hungarian Cubes. Subversive Ornamente im Sozialismus, Park Books 2014; Martin Maleschka: https://www.flickr.com/photos/33027180@N00/
zuerst erschienen: Neue Zürcher Zeitung 16. April 2015
Ich bedanke mich bei Roman Bezjak und bei Philipp Meuser für die Erlaubnis zur Veröffentlichung ihrer Bilder.