Bildmotive eines Nachtvogels: Paris in den Dreißiger Jahren

Regennasse Kopsteinpflaster, auf denen Lichtreflexe tanzen, Straßenlaternen mit gestreutem Licht, unter denen Mädchen warten, gusseisernes Stadtmobiliar von der Parkeinfassung bis zur Balkonbrüstung, überfüllte Bistros mit Spiegeln und ausgelassenen Pärchen an engen Tischchen, hingebungsvolle Liebespaare in Hut und Mantel, heute zum Teil ausgestorbene „kleine Berufe“ auf der Straße, die Akteure mit Schiebermütze und in Schnürstiefeln oder sogar in einer Art Uniform gesteckt: All das hat jahrzehntelang im zwanzigsten Jahrhundert das Bild von Paris geprägt. Scheinen in diesen Vorstellungen Bilder vom nächtlichen Paris auf, sind sie maßgeblich von den verhalten daherkommenden Aufnahmen Brassaïs bestimmt, der Anfang der dreißiger Jahre das nächtliche Paris „als Nachtvogel“ mit einer schweren Mittelformatkamera durchstreift hat. Mit dem Fotobuch „Paris de nuit“ (1932), das 64 sorgfältig ausgewählte Fotos zeigte und von einem Text des Schriftstellers Paul Morand begleitet war, wurde Brassaï „über Nacht“ berühmt. Einen profunden Einblick in dieses und andere Werke, auch Arbeiten aus dem Nachlass, die sich seinem großen Thema, dem nächtlichen Paris und einer sorgsam in Szene gesetzten Unterwelt widmen, gibt der zuerst bei Gallimard, jetzt bei Schirmer/Mosel aufgelegte und schön ausgestattete Band. Betrachtet man die Schwarz-Weiß Fotografien erscheint einem vieles vertraut, sei es als Bildmotive von Eugéne Atget und Brassaïs ungarischem Landsmann André Kertész, der ihn in die Fotografie einführte, als Zolasche Schilderung des Pariser Großmarktes oder als Filmszene. Dass dieser erste visuelle Eindruck seinen Grund hat, lässt sich in den kundigen Begleitaufsätzen nachlesen, die zeigen, wie viel Brassaï diesem kulturellen Universum verdankt und wie sehr sich seine Faszination für das nächtliche Treiben von literarischen Bildern des 19. Jahrhunderts gespeist ist. Der filmische Effekt, besonders in den Freier- und Ganovenszenen hat einerseits mit dem (in dieser Zeit) häufigen Einsatz von Statisten zu tun, die für ihn posieren und wie im Fall der Ganoven, sich selbst spielen, anderseits mit den Rückwirkungen, die Brassaïs Aufnahmen auf das Filmschaffen seiner Zeit hatten. „Nachts wird eine Stadt zu ihrer eigenen Kulisse, aus Pappmaché nachgebildet, wie im Studio“, beschreibt Brassaï das Besondere dieses wechselseitigen Effekts. Und schenkt man einer im Buch erwähnten Anekdote des Regisseurs Henri Diamant-Berger Glauben, so gab es bereits in den Dreißiger Jahren gedungene Schauspieler, die für nächtliche Touristenführungen in den einschlägigen Lokalen die Ganoven mimten.

Sylvie Aubenas, Quentin Bajac: Brassai. Flaneur durch das nächtliche Paris. Schirmer/Mosel, 312 Seiten, 300 Tafeln, 69€

zuerst erschienen in: Süddeutsche Zeitung 16.09.2013