Ach, Europa! Positionen europäischer Landschaftsfotografie

„Das Verhältnis zur Landschaft hat wesentlich Anteil an unserer Art und Weise, Europäer zu sein“, schreibt Liz Wells im Nachwort zu „Sense of place. Europäische Landschaftsfotografie“. Das Schaffen von 40 Fotografinnen und Fotografen ist hier nach Himmelsrichtungen und Regionen geordnet: Norden, Central-Mitteleuropa, Süden (Mittelmeer-Atlantik/östliches Mittelmeer), der „Osten“ existiert dabei ebensowenig wie der „Westen“. Einführende Essays von Kuratoren (nicht immer passen sie ganz zu den vorgestellten Bildern der Fotografen) reflektieren, betrachtet man sie als Ganzes, das große und konträre Spektrum der Möglichkeiten, sich mit Landschaft zu beschäftigen. Der Bildband setzt ein mit Bruno Baltzers Aufnahmen eines verlassenen, asphaltierten, nächtlichen Kirmesgeländes, womit der äußerste Punkt einer vom Menschen geschaffenen „Landschaft“ definiert wäre und endet mit einer überfüllten Strandanlage in „Catania“ von Massimo Vitali. Die visuelle Reise vom Norden in den Süden, die im Fotografieband das kommerzialisierte Vergnügen als Klammer zu haben scheint, zeigt wie sehr der Eingriff des Menschen und das Konzept des Fotografen die Bilder von Landschaft und damit die Vorstellung von Europa bestimmen: ein dicht besiedeltes Gebiet, das Landschaft immer mehr in Dienstleistungs- und Freizeitlandschaft zu verwandeln unternimmt. Löst man sich von diesen Vorgaben und konzentriert sich ganz auf die Fotografien, einmal unabhängig von der nicht wirklich befriedigenden Einteilung nach geografischen Räumen, so stößt man auf vier große Themen, fast schon Genres der Landschaftsfotografie, welche die Fotografen umtreiben.

Übergreifende Themen
Da ist der Blick auf die Gefährdung der Landschaft: So in dem großangelegten Arbeiten von Céline Clanet über Wasserkraftwerke in den französischen Alpen, oder Carl de Keyzers Dokumentation des Küstenschutzes in den Niederlanden und Belgien, ebenso wie in Andreas Müller-Pohles Donaufotos, in die jeweils die Schadstoffbelastung des Stroms eingeblendet ist. Oder das Augenmerk liegt auf historischen Kriegsschauplätzen und Militäranlagen (Bart Michiels, Gina Glover). „Jede Landschaft, ganz gleich wie sanft und lieblich sie sein mag, birgt das Substrat einer Katastrophe“, das Diktum des amerikanischen Earth-Art-Künstlers Robert Smithson trifft auf das in seiner Geschichte von zahlreichen Kriegen geformte Europa in besonderem Maße zu.

Die Entdeckung der Zwischenbereiche, die Aufmerksamkeit für das banale Niemandsland der „terrain vague“ sind genuin fotografische Themen. Mit Ausnahme der Bauruinen in Irland (Anthony Haughey), die doch die Magie der Landschaft nicht ganz außer Kraft setzen können, fällt hier vor allem postsozialistische Tristesse ins Auge. Das Politische lässt sich trotz der Beschwörung von Central- und Mitteleuropa nicht ausblenden: so bei Aufnahmen von eintönig wirkenden Stätten (die leider unkommentiert bleiben) in Rumänien von Tudor Prisacariu, den aus landwirtschaftlicher Nutzung verbliebenen Restflächen von Gábor Arion Kudász in Ungarn oder angesichts unbehaglicher, nächtlicher Straßenszenen im Polen Szymon Roginskis.

Das dritte große Thema gilt der Konstruktion von Landschaft unter einer besonderen Blickordnung. Dazu gehören das dem Meer abgerungene, wie mit dem Lineal parzellierte Land an der holländischen Küste, aus der Höhe mit einem Flugdrachen von Gerco de Ruijter fotografiert, der Blick durch die Heckscheibe bei einer winterlichen Autofahrt durch Spanien (ein fast schon amerikanisches Sujet des Portugiesen Augusto Alves da Silva), aber auch digitale Kunstwelten, die unsere Sehgewohnheiten durch Übersteigerung bestätigen (Thomas Weinberger).

Das Augenmerk auf alte und neue Rituale bildet einen weiteren Themenkomplex. Hierunter fallen Arbeiten wie die märchenhaften Fotografien von Arturas Raila, der Wünschelrutengänger in den Wäldern Litauens – als wären es Feen und Kobolde – auf einer Lichtung zeigt, Osterfeuer auf Zypern von Nicos Philippou (hier türmen junge Leute Paletten und Altholz zu temporären Pyramiden), aber auch Verweise auf Mythen der Landschaftsmalerei bei der Finnin Elina Brotherus, die als Frau im Meer oder vor einer Landschaft posiert.

Berührende Landschaften
Landschaftsfotografie, die heute mehr noch als Erinnerung oder Literatur die Vorstellung von Landschaft als Sehnsuchtsort oder Wüstung bestimmt, berührt besonders da, wo sie die Ruhe des Blicks auf eine raue Umgebung richtet und sich auf die Kraft der Formensprache verlässt. So bei Gerardo Custance, der eine einfache, amphitheaterähnliche Arena auf einer kleinen Anhöhe über dem darunterliegenden Dorf in Spanien zeigt, die Aufnahme rückt sie nahe an die historische Kirche und geradezu anstelle eines Friedhofs, im Hintergrund dehnen sich Felder und Hügel aus. Oder die archaisch anmutenden, fast monochromen Fischerszenen von Theodoros Tempos, die Faszination und Schrecken der Elemente ins Bild setzen. Ohne die Gegenwart auszublenden, scheint in solchen Bildern das Zusammenspiel von fotografischer und – die längste Zeit über durch Literatur und Mythos – geprägter Wahrnehmung der alteuropäischen Landschaft auf.

Sense of Place. Europäische Landschaftsfotografie. Deutsch und Englisch. Prestl, 280 S., 120 Abb. 49,95 €

zuerst erschienen in: Süddeutsche Zeitung 24.09.2012