Ein Selbstporträt des sorgfältig mit einem weißen Hemd bekleideten palästinensischen Fotografie-Studenten Dabdoub in einem Studentenwohnheim der DDR, der seiner Aufgaben gefasst in einen kleinen, gerahmten Spiegel entgegenschaut, eröffnet den Fotoband mit Schwarzweißaufnahmen über das Leipzig der Achziger Jahre. Flankiert von einem Grußwort seines damaligen Professors und einem Interview über die für Mahmoud Dabdoub sujektiv bis zur Wende als Jahre des Aufatmens und Getragenwerdens empfundene Zeit setzt der Hauptteil dann ein mit eindringlichen Aufnahmen vom dunstverhangenen Bahnhof. Er ist auffallend leer, nur einige Rückenfiguren beleben die Szenerie, darunter ein Uniformierter im langen Mantel, der an Vorkriegs-Filme denken lässt. Anders als auf berühmten impressionistischen Gemälden aus dem 19. Jahrhundert, in denen das neue Zeitalter der Eisenbahnen gefeiert wird, ist dies ein Bahnhof der beschnittenen Verheißungen: Man kann verreisen, auch ins sozialistische Ausland, aber nur unter besonderen Umständen in den Westen. Man hat eine Arbeitsstelle, ja ist gezwungen zu arbeiten, allerdings nicht immer das, was man arbeiten oder studieren möchte. Vieles aus den Straßenbildern – anders bei den Innenaufnahmen in denen ein Stück weit exterritorialen Räumen der Clubs und Studentenwohnheime – mutet, zumindest mit den Augen der westdeutschen Rezensentin gleichen Jahrgangs betrachtet, weit vergangener an, als die zeitliche Distanz zum Gezeigten tatsächlich beträgt. Da sind zum einen die recht schlanken, eher selten in gut sitzende Kleidung gewandeten Menschen – die Uniformträger allerdings tragen auf Figur Geschnittenes –, die in sich gekehrt auf nicht allzu belebten Straßen unterwegs sind, oder alleine im Schnellcafé ihren Gedanken nachhängen. Wunderbare, poetische Aufnahmen gelingen dabei: Eine Frau mittleren Alters mit Pelzkappe und großer Handtasche, von Schneeflocken umtanzt, eilt, versunken und der Kälte trotzend, ihres Weges, ein altes Mütterchen mit Kopftuch, zwei Gasluftballons geschultert, passiert, den Blick ins Unbestimmte gerichtet, die steinernen Epitaphe, die von der Außenwand der abgebrochenen Pauliner-Kirche (das Leipziger Zentrum sollte sozialistisch umgestaltet werden) gerettet und an andere Bauten versetzt wurden. Verhalten muten die Reklameschriften in den Schaufenstern an, die Fassaden sind noch vom Krieg gezeichnet, das Straßenpflaster reflektiert in fein abgestuften Grauwerten Licht und Nässe. Man sieht Menschen bei körperlicher Arbeit, ausgerüstet mit einfachem Gerät, sie verladen Kartoffelsäcke, Kohlen, Fässer und auch Pferdefuhrwerke sind noch hier und dort im Einsatz. Das Schaufenster eines Fotostudios zeigt Beispielfotografien proper lächelnder, zurecht gemachter Kleinkinder, die über einen – auch er scheint Grüße aus einer lange zurückliegenden Zeit zu überbringen – Vorhang aus Maschinenspitze geheftet sind. Und vor dem Geschäft sehen wir das Gesicht eines in diesem Moment weniger glücklich aussehenden Kleinkindes im modischen mit Kord bezogenem Kinderwagen. Überhaupt die Kinder: Die Mädchen tragen noch Kniestrümpfe, Röcke und Sandalen, die Buben kurze Stoffhosen, sie amüsieren sich mit großen Kartons, ein Mädchen ist auf dem Weg zum Musikunterricht, ein kleiner Junge posiert mit einer Waffe. Mitte der Achtziger Jahre kommt indes auch Bewegung in die Gesellschaft, auch sie hält Dabdoub fest: Jugendliche tragen frechere Frisuren, ein recht lieb ausschauender Punk mit poussierlichem Nagetier lächelt für die Kamera. Man bewegt sich freier als die Generation zuvor, man debattiert zu zweit oder dritt in den Cafés und scheint Lagebesprechungen abzuhalten. Ausländische Studierende bringen ein neues Lebensgefühl an die Hochschulen, im griechischen Club tanzt ein junges Paar ausgelassen und ganz im Moment aufgehend auf dem Tisch. Ein letztes Foto aus dem Studentenwohnheim von 1985 schließt das Buch, von drei nebeneinander gehängten Fotos staatlicher Repräsentanten auf Blümchentapete ist eines (wohl das von Honecker) umgedreht worden und wendet dem Betrachter den Rücken zu.
Mahmoud Dabdoub: Neue Heimat Leipzig. Fotografien 1982-1989. Lehmstedt Verlag, 143 S., 19,80 €
zuerst erschienen in: photonews 9/2016