Ausstellung Thomas Kellner „Sights“ vom 28.9.24 – 12.1.25 Landesmuseum Kunst & Kultur Oldenburg


Kunsterfahrung braucht Raum, den Bildraum, aber auch den Ausstellungsraum, und Zeit – die vergangene Zeit, die das Bild selbst visualisiert, aber auch die Zeit des individuellen oder gemeinsamen Betrachtens und Verarbeitens in der Gegenwart. Beides ist nötig, damit wir uns präsent im Hier und Jetzt bewegen, aber auch dafür, dass wir uns erinnern und, wie man heute sagt, ein Geschehen „einordnen“ können.

Raum und Zeit

Und etwas weitergehender gefragt, denn wir haben es bei Thomas Kellner mit einem sehr belesenen und reflektierten Künstler zu tun, einem „artifex doctus“: Wie eng gehören Raum und Zeit auf einem Bild zusammen und auf welche Weise bedingen sie sich wechselseitig? Welche Rolle spielen dabei die Bewegung und mit ihr die Geschwindigkeit – solch grundlegende Fragen, wurden bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von philosophischer wie naturwissenschaftlicher Seite ganz neu betrachtet und diskutiert. Und nicht zuletzt kommt auch dem Medium Fotografie bei all diesen Überlegungen eine bedeutende Rolle zu.
Thomas Kellners Basis für die hier gezeigten künstlerischen Arbeiten ist das in horizontaler Reihung nacheinander in die Höhe oder auch einmal vertikal in die Breite wachsende Raster. Es ergibt sich aus den Kontaktbögen eines analogen Filmes, die in gleichgroße Streifen geschnitten, zu einem Bild gelegt werden. Bei großformatigen Bildern können auch mehrere Filme zum Einsatz kommen.
Genaue Planung im Vorfeld und Akribie sind dafür nötig: Kellner legt die Zahl der vorgenommenen Aufnahmen von der Ansicht eines vollständig erfassten Gebäudes im Voraus fest – und das bedeutet ganz materiell, die Anzahl und Anordnung der in Streifen geschnittenen Kontaktbögen. Ein Kontaktbogen listet die Bilder exakt in der Reihenfolge auf, in der sie vom Fotografen aufgenommen worden sind. Kellner muss also schon zum Zeitpunkt der Planung festlegen, in welcher Reihenfolge er später die Segmente fotografieren wird. Er antizipiert, wann und wo, die jeweiligen Einzelaufnahmen auftauchen werden, wenn er in einem späteren Arbeitsschritt am Schneidetisch die Kontaktstreifen wie Bausteine in die Höhe wachsen oder wie Pfeiler nebeneinander fussend, auf dem so entstehenden Bild anordnen und montieren wird. Mit einem etwas aktuelleren Begriff könnten wir seine Arbeitsweise auch als das Erstellen eines „storyboards“ bezeichnen.
Ein Gebäude, wie groß auch immer es sein mag, wird gedanklich also minutiös in unterschiedlich viele, rechteckige Segmente aufgeteilt, diese werden dann mit der Kleinbildkamera Stück für Stück erfasst. Das Vorhaben kann sich über Stunden hinwegziehen oder, wie im Fall der Vorbereitung für die „fotografischen Vermessung“ des Grand Canyon vor Ort, auch über einige Tage. Die Aufnahmen selbst am Grand Canyon beanspruchten hingegen nur vier Stunden.
Wieder ins Atelier zurückgekehrt, werden die so entstandenen Gebäudefragmente zu einem neuen Bildgefüge, einer neuen Bauskulptur komponiert und in das schon bei der Konzeption festgelegte Bildformat gebracht. Man kann es aber auch anders beschreiben: Die Maße der Kontaktbögen und die Anzahl der verwendeten Filme bestimmen das Format des Bildes. Die amerikanische Medienwissenschaftlerin Yi-hui Huang hat das einmal anschaulich beschrieben: „Verwendet man eine Rolle Film, entspricht der finale Druck ungefähr der Größe eines Briefes, aber verwendet man 20 Rollen, entspricht das der Größe eines Doppelbettes.“ Wir sehen und das ergibt den gitter- oder rasterförmigen Effekt, wenn das Ganze zu einem Bild aneinandergefügt wird, auf den montierten Kontaktabzügen die Schwarzstreifen am Rand, versehen mit der Nummerierung und anderen Daten. Betrachten wir den Print einer zu einem einzigen Bild zusammengebauten Aufnahme, sehen wir die kleinen Bilder, die nach und nach aufgenommen wurden, in der Gesamtanordnung scheinbar gleichzeitig. Allerdings nur scheinbar, denn unsere langsamen Augen sind ständig in Bewegung, wenn sie länger auf etwas „verweilen“ wollen und großformatige Bilder lassen sich kaum mit nur einem „Blick“ erfassen.
Das erscheint uns vertraut und irritierend zugleich. Denn das exakt konstruierte Raster hat mit der Erfindung der Zentralperspektive im Quattrocento, also im 15. Jahrhundert, das europäische Denken und Fühlen mehr geprägt, als uns das bewusst ist. Angehenden Malern, die mit der rein geometrischen Anlage eines zentralperspektivisch konstruierten Raumes noch nicht allzu vertraut waren, wurde zunächst tatsächlich empfohlen, ein Raster auf ihr Zeichenblatt aufzutragen und hier Rechteck für Rechteck nacheinander einzutragen, was sie vor sich sehen. Gänzlich Ungeübten wird auch angeraten, durch ein in kleine Scheiben untergliedertes Fenster zu schauen oder um der Vorstellung auf die Sprünge zu helfen, ein entsprechendes Gitterwerk vor sich aufzustellen, durch das sie auf eine Landschaft oder in einen Raum blicken. Albrecht Dürer hat einen bekannten Holzschnitt mit Gitterwerk, gerastertem Zeichenblatt und Vorrichtung zur Arretierung des Blickes geschaffen: „Der Zeichner des liegenden Weibes“, zugleich aber auch minutiös beschrieben, wie sich zentralperspektivisches Zeichnen auch nur mit Zirkel und „Richtscheyt“ bewerkstelligen lässt.
Nicht Zirkel und Richtscheiyt, sind Thomas Kellners „Zeichenhilfen“, sondern die Kamera. Aufgrund ihrer Technik liefert sie ein zentralperspektivisch organisiertes Bild. Unsere Augen sehen übrigens nicht so, wie die Theoretiker der Zentralperspektive, allen voran Leon Battista Alberti, das in ihrer Zeit so wirkungsmächtig behauptet haben. Und Thomas Kellner setzt Kamera und Raster oder wollen wir zur Unterscheidung lieber doch vom „storyboard“ sprechen?, komplett anders ein, als worauf wir, die wir viele zentralperspektivisch organisierte Bilder gesehen haben, vorbereitet sind, wenn wir zum ersten Mal seine Bilder betrachten.

Fotografie und Malerei

Thomas Kellner ist ein experimentierfreudiger Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts, dessen Werk das Verhältnis von Raum, Zeit und Bewegung immer wieder aufs Neue in all seinen Facetten erforscht. Fotografie und Malerei haben durchaus eine gemeinsame Geschichte. Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts waren die Kamera und ihre Aufzeichnungsmöglichkeiten technisch herangereift, noch mit recht langen Belichtungszeiten, aber einige Jahrzehnte später entstand bereits die Chronofotografie. Letztere ermöglicht es, mit sehr kurzer Belichtung Bewegungsphasen beim Gehen oder schnellen Laufen von Mensch und Tier zu erfassen und damit in ihrer genauen Abfolge zu studieren. Das war eine Sensation, denn unsere Augen nehmen nur den Bewegungsverlauf wahr, nicht aber die Einzelmomente, aus denen sich eine Bewegung genau zusammensetzt. Diese Entdeckung – durch einen Apparat, die Kamera – war auch bahnbrechend für die Entwicklung der Malerei. Was wir mit unsren Augen sehen, unterscheidet sich signifikant von dem, was bisher auf Gemälden und Zeichnungen oder Druckgrafik dargestellt wurde, die für sich in Anspruch nahmen, Landschaften und Szenerien mit Menschen und Tieren so zu zeigen, wie wir sie sehen würden, wenn wir auf sie durch ein „geöffnetes Fenster“ schauten (so die Metapher, mit der die Zentralperspektive eingeführt wurde). Die Malerei beginnt sich in der heraufziehenden Moderne mit dem Impressionismus, der auch auf fotografische Betrachtungsweisen rekurriert, allmählich zu erneuern. Man ist aufgeschlossen für Raumlösungen aus dem asiatischen Kulturbereich und schließlich schafft es der Kubismus, das Kunstgeschehen ganz neu auszurichten, indem er genüsslich Gegenstände zerlegt und sie gleichzeitig von mehreren Seiten aus zeigt.
Tatsächlich ist das Erste, was dem kunstgeschichtlich Gebildeten angesichts von Kellners Bildern in den Sinn kommen mag, die kubistische Raumgestaltung. Und so darf man es auch gerne als eine fotografische Erinnerung an Robert Delaunays farbenfreudige orphistische Bilder des Eiffelturms begreifen, wenn man die Schwarzweißaufnahmen im ersten Raum betrachtet, den schwankenden und tanzenden Eiffelturm, der uns Zeitreisende willkommen heißt.
Paris war die sogenannte „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“. Man schaute nach Paris, wenn es um Kunstrichtungen, Lebensart, aber auch um einen Schauplatz für technische Neuerungen ging, von der Schwarzweißfotografie eines Daguerre bis hin zur Philosophie eines Henri Bergson, der um ein neues Verständnis von subjektiv empfundener Zeit rang. Wir können, geführt von Thomas Kellner, der, nebenbei gesagt auch aktiver Freizeittänzer ist, einen Gang oder nein, einen Tanz durch die Kunst- und Fotografiegeschichte mit kleinen Abstechern zur Philosophie wagen, keine Sorge, nicht auf allzu glattem Parkett, denn die Arbeiten werden ja durch das Raster „geerdet“, das den Augen auch eine Art von Halt bietet.

Chinesische Raumkunst

Thomas Kellners Werke wurden in China gezeigt – er ist gerade von einer Chinareise zurückgekehrt – und er hat dort auch selbst einige Fotografieausstellungen von Kolleginnen und Kollegen kuratiert. Die asiatische Tradition, Raum auf Bildern darzustellen, unterscheidet sich fundamental von der uns vertrauten, zentralperspektivischen Darstellung. Der britische Künstler David Hockney, selbst Zeichner und Fotokünstler, der auch Collagen aus gestaffelten oder aufgefächerten Polaroids geschaffen hat, beschreibt das sehr schön. Der europäische Künstler setzt sich hin, schaut durch das Fenster in seinen Garten und malt ihn, der chinesische Künstler hingegen ergeht sich in seinem von gewundenen Pfaden durchzogenen Garten und malt dann die Erinnerung an das Umhergehen im Garten auf sein Bild. Der Renaissancekünstler: „(…) wird von seinem Blick durchs Fenster festgehalten und deshalb denkt er perspektivisch. Bei den Chinesen ist das anders, denn ihre Erfahrung ist die Bewegung, das Fließende, so wie die Zeit dahinfließt. So beginnen sie von ganz unterschiedlichen räumlichen Gegebenheiten, der eine sitzt, der andere nicht“, schildert Hockney die sehr unterschiedliche Herangehensweise.
Tanzen wir also bildlich gesprochen mit Thomas Kellner durch die Räume, denn auf seinen Bildern feiern wir, wie auf den asiatischen Bildern, die Bewegung.

Durch Paläste lustwandeln

Vielleicht ist es deshalb so, dass die farbenprächtigen Aufnahmen von Barockpalästen im sonnendurchfluteten Genua nicht nur den Impuls in uns auslösen, immer noch mehr Bilder zu sehen, sondern auch tatsächlich den Wunsch dort zu sein: Es ist, als wenn wir gemeinsam die Paläste durchschritten, hier und da stehenblieben, noch einmal zwei Schritte zurückgehen, uns vorbeugen und über das Geländer oder die Balustrade schauen. Wir entdecken nicht nur das Gebäude aus der intimen Warte des in ihm umher wandelnden Fotografen, sondern empfinden auch die Wärme, die Besonderheiten des Lichtes, den Widerschein der Geschichte. Hier erscheint uns das Kellnersche, durch die Ränder der Kontaktbögen erzeugte Raster (hier 11 x 12, also 132 Einzelbilder), wiewohl genauso konsequent eingesetzt wie bei den anderen Werkkomplexen und durchaus auch ein dunkler Farbkontrast zur Helligkeit der Paläste und ihrer Innenhöfe wie ein schmiedeeisernes Gitter, auf das wir nur die Hand legen müssen, um es zu öffnen und im Raum zu stehen. Und das seltsamerweise, obwohl viele Ansichten gleichzeitig zu bewundern sind, gegeneinander gekippt und verschoben aufgenommen wurden. Jedes Bildchen allerdings ist in sich – und das wohnt der Technik der Kamera inne – zentralperspektivisch organisiert. Die schnelle Assoziation Kubismus trifft das Raumerleben also nur teilweise oder sagen wir vorläufig.
Architektur nicht als statische Vorgabe anzusehen und entsprechend auf einer Fotografie vorteilhaft zu „porträtieren“, mal frontal, mal von der Seite, sondern wie ein Bewohner oder Besucher im Durchschreiten der Räume in ihrer Wirkung auch körperlich, „leibhaftig“ erfahren zu wollen, ist eine in der Architekturfotografie eher selten geübte Praxis.
Und erst recht ist sie selten bei Bildnissen von Ikonen der Architekturgeschichte anzutreffen, wie wir sie in Raum 2 zu sehen bekommen. Sie wurden tausend oder nein, millionenfach von Fotografen wie Amateuren fotografiert, aber sind sie noch erkennbar, wenn man sie neu zusammensetzt, sie in eine neue plastische Form gießt?
Hier lässt sich ablesen, was es braucht, damit ein Bild eines Bauwerkes noch seine Vorlage, das eigentliche Motiv, durchscheinen lässt. Kehren wir dazu noch einmal in die Renaissance zurück. Leonardos „Letztes Abendmahl“ erkennt man auch noch, wenn statt der Jünger und Jesus digital Mickey Mäuse um den Tisch platziert worden sind, so charakteristisch ist der Bildaufbau mit der langgestreckten Tafel, der Kassettendecke, der zentralperspektivischen Konstruktion und den drei zur Landschaft hin geöffneten Fenstern. Und selbst wenn gar niemand mehr am Tisch sitzt und nur die Raumanlage monochrom in Grau und Weiß nachgebildet ist, wie bei Bill Witkins, wissen wir doch: Das ist eine Hommage an Leondardos „Letztes Abendmahl“.
Wie viel Gestaltungsfreiheit hat man also beim künstlerischen „Umbauen“ eines Gebäudes?
In der Regel haben wir auf den kompilierten Bildern von Kellner als konstanten Halt das erste Rasterband aus Kontaktstreifen mit dem Boden, manchmal auch das letzte, mit dem Himmel. Das unterste Rasterband bildet das Fundament, hier liegen die Einzelbilder auf einer gedachten, in der Regel statisch bleibenden Horizontale. Auf Kellners Architekturdenkmälern ziehen sich die Aufnahmen, in die „Rasterbänder“ der Kontaktstreifen gefasst, mal in sanft schwingenden Wellenbögen wie bei einer „idealen Landschaft“ von Claude Lorrain aus dem 17. Jahrhundert – dort als Farbbänder räumlich voneinander abgesetzt – dann wieder eher böenartig aufgewirbelt, von links nach rechts durchs Bild. Sie schichten sich nach oben, dem zumeist niedrig gehaltenen Horizont entgegen. Bei Brücken, Riesenrädern, dem Eiffelturm stehen die konstruktiven Elemente für den Wiedererkennungswert des Bauwerks im Vordergrund, bei weiteren Gebäuden die signifikant empor- oder herausragenden Teile wie Türme oder Giebel. Manchmal erinnern die Gebäude in der Kellnerschen Perspektive an Bilder der Malerei. Die Frauenkirche in München und die an sie anschließenden Bauwerke aus Raum 2 könnte auch, so wie Kellner sie zeigt – und die Münchner, die sich gerne als die Vorhut Italiens verstehen, würde das vielleicht erfreuen – auch in einem Gemälde von Girogio di Chirico zu stehen kommen.
Aber wir sehen auch ein Gebäude wie das Pervouralkser Röhrenbauwerk in Russland, das im Westen nur Eingeweihten bekannt sein dürfte. Ende des 18. Jahrhunderts erbaut, um Eisen zu gießen, erfuhr es viele Umgestaltungen. Es wurde ein Röhrenbauwerk zur Herstellung von Geschützrohren, aber auch für Stahlrohre. Wir können am ausgestellten Material die Arbeitsweise Kellners studieren, der auch viel mit Zeichnungen im Vorfeld arbeitet. Eine Zeichnung extrahiert den grafischen Wert aus dem verschlungenen Gewirr der bunten Röhren, eine andere Zeichnung hält eine Art von Versmaß fest: Festgehalten sind die „Hebungen“ und „Senkungen“, die dann in der Neukomposition des Gebäudes das Bild durchziehen werden. 24 x 17 Einzelbilder sind es. Die Farbverläufe erscheinen anders, da die Wirkung der Farben in der Neuzusammensetzung sich gegenseitig beeinflusst, vielleicht aber auch weil die Lichtverhältnisse sich während der Zeit der Aufnahme verändert haben. Die Erkenntnis, dass auf einem Bild Farben je nach Nachbarschaften die Wahrnehmung ihres Farbwertes anders ausrichten, hat übrigens auch schon Leon Battista Alberti, der Theoretiker der Zentralperspektive, in seinem Buch über Malerei festgehalten.
Und was ist das Charakteristische an einem nächtens durch geschickte Beleuchtung in Szene gesetzten Gebäude, das durch die Lichtinszenierung wie eine Erscheinung daherkommt? Die durch Kellners Eingriff aufgebrochene Lichtinszenierung erinnert in diesem Fall ein wenig an Tiffanylampen, das hat mit der Fragmentierung und den Farbeffekten zu tun. Sie sehen: Unser oder zumindest mein Bildgedächtnis wird ständig gereizt und auch das macht Kellners Werk so anregend: Die Kunst- und Fotografiegeschichte in ihren zahlreichen Facetten zieht gedanklich an uns vorüber.

Kapellenschulen: Bergung eines historischen Schatzes

Manchmal aber zeigen Werkkomplexe, wie die Eiserfelder Gebäude oder die hier gezeigten „Kapellenschulen“ auch einen ganz anderen, sozialen Hintergrund und interessieren uns für die Geschichte, deren verbliebene Zeitzeugen sie sind und die durch Kellners Arbeiten auf eine ungewöhnliche Weise unsere Aufmerksamkeit wecken. Hier sind wir mit einer genuinen Aufgabe der Fotografie befasst, die heute auch für andere Zweige der Kunst eingefordert wird: Fotografische Aufnahmen lehren uns, wie viele bisher übersehene, nur auf den ersten Blick unscheinbare Gegenstände oder in diesem Fall Bauwerke unsere unmittelbare Umgebung bietet. Und das nicht, weil der Apparat unterschiedslos einfach alles aufnimmt, auf das er gerichtet wird, sondern weil der Fotograf systematisch einem Thema auf der Spur ist und sich nicht nur rein ästhetisch damit befasst, sondern sich auch historisches Wissen dazu angeeignet hat. Zum einen, um die Objekte überhaupt aufzufinden, zum anderen, um zu zeigen, welches historische Verständnis sie uns heute als Zeitzeugen vermitteln können. Im Fall der Kapellenschulen handelt es sich um die Frühphase ländlicher Schulbildung für die Kinder von Bauern, sofern sie abkömmlich waren, denn die Arbeit auf Feld und Hof ging stets vor. Kapellenschulen im Siegerland, das im heutigen Südwestfalen liegt, sind ein Kind der Reformation. Sie vermittelten, oft mehr schlecht als recht, elementare Kenntnisse vom Rechnen, Schreiben und Lesen, sehr viel religiöse Ermahnungen finsterer Natur, (aber wie man dem erhalten gebliebenen Verzeichnis einer sehr schmalen Schulbibliothek entnehmen kann, auch so praktische Dinge wie sie im „Feuerkatechismus“ vertreten sind. Dort lernt man, was im Falle eines Feuerausbruchs zu tun ist und wie man ihn schon im Vorfeld verhindern kann, zum Beispiel durch richtige Lagerung von Nahrungsmitteln.)
Die einfachen Gebäude, stets mit einem Türmchen ausgestattet, da sie auch als Andachtsraum genutzt wurden, oder umgekehrt der Andachtsraum auch als Schulraum fungierte, sind für Kellner und seine Betrachter ein Lehrbuch ländlicher Handwerkskunst am Bau: Fenstereinfassungen, Türen, Uhren – durch Kellners Neuarrangements nehmen wir sie in den Blick. Und beginnen uns mehr und mehr auch für den sozialen und politischen Hintergrund zu interessieren: Der Schulbau war ein Kraftakt für ein Dorf, oft aus Kirchenkollekten von den Gläubigen selbst finanziert, er unterstand der kirchlichen Aufsicht, die Lehrer waren miserabelst bezahlt. Und doch: Sie waren ein ungeheurer Fortschritt in der Alphabetisierung und sind heute eines genauen Hinschauens und Erhaltens wert. Und es wäre ein großer Schritt in der Denkmalpflege, würde man die Erhaltungswürdigkeit auch mit Bildern wie denen von Thomas Kellner begründen, denn mit ihnen beginnt man die Einzelheiten ganz neu zu sehen.

Russische Impressionen

Springen wir vom ländlichen Bildungswesen im Siegerland wieder nach Russland. Kellner hat hier Postkarten aus älteren und jüngeren russischen Zeitschriften collagiert. Immerwährender Hintergrund bildet eine Kellnersche Neukomposition einer von 2000 -2003 im russisch-orthodoxen Stil errichteten Kathedrale in Jekaterinburg im Uralgebirge. Sie bildet tatsächlich eine Konstante, auch wenn das Gebäude sich scheinbar in Bewegung befindet, und mehr oder weniger durch die ausgeschnittenen Zeitungsbilder verdeckt ist. Mal erscheint Kellners Bild im Bild, die Kirche, nachdenklich, mal ironisch im Hintergrund, mal scheint sie sich schamhaft zu verstecken. Es handelt sich um klassische Mail-Art: Thomas Kellner hatte vor einer Einladung nach Russland, rund 50 Postkarten drucken lassen. Sie zeigen das Bild der bei einem vorangegangenen Aufenthalt im Kellnerschen Verfahren aufgenommenen und von ihm neu zusammengesetzten Kirche. Wie bei einem Sammelbilder-Album wird sie von einer Art Einsteckrahmen umfangen. Kellner hielt sich beruflich weitere vierzehn Tage in Russland auf, wohnte in der Zweizimmerwohnung einer befreundeten Künstlerin und verbrachte einen Teil seiner Abende, wenn er nicht gerade zum Tanzen ausging, damit, aus dem Zeitschriften-Stapel, der in der Küche platziert war und sich über zehn Jahre angesammelt hatte, Bildchen auszuschneiden und auf seine Postkarten zu kleben. Er verschickte sie, diejenigen Karten, die aus Russland bei ihrem Adressaten angekommen sind, können wir in Raum 3 bewundern. „Genius loci“ lautet der Titel des Werkkomplexes.
Kommentiert die verkitschte Welt der Zeitschriften ebenso wie das prahlerische Zurschaustellen von Waffen und altertümlichen Errungenschaften das historisierende Gebäude der Kirche, das nur scheinbar aus einer anderen Zeit stammt oder ist es umgekehrt? Wenn in guter surrealistischer Manier wie vor hundert Jahren durch die Neuzusammenstellung alten Materials das Unbewusste zur Sichtbarkeit gebracht wird, welche Sehnsüchte und Klischees der Russinnen und Russen tun sich hier für uns Betrachter auf? Oder anders gefragt, welche Bilder hatten wir von Russland zum damaligen Zeitpunkt – sie waren mit Sicherheit anders, als sie es heute sind? Diese Frage stellt sich, wenn wir an eine spätere Collagetradition anknüpfen, wie die eines Richard Hamilton oder Joseph Kornell: Beide Künstler haben jeweils als Außenstehende aus Print-Materialien eines Landes, aus Zeitschriften, Werbeprospekten und Postkarten ihr Bild vom Leben auf einem anderen Kontinent entworfen. Für den Briten Hamilton ist es die konsumverliebte, im Vergleich zu Europa reiche USA der Fünfziger Jahre, für den US-Amerikaner Joseph Kornell ein imaginiertes Paris, als intuitiver Ort der Verheißung und nostalgischen Wehmut.
Wenn zu oft das Wort „Intuition“ fällt, sollte man zum geistigen Abspecken ein Integral lösen, rät Robert Musil seinen Lesern. Wenn man die Postkarten angeschaut hat, kann man den Raum 6 betreten, denn hier geht es sehr klar, sehr durchstrukturiert, sehr skandinavisch zu. Die Arbeiten sind für eine Ausstellung in Aarhus angefertigt worden, die in der zweitältesten Fotogalerie Skandinaviens stattfand. Die dänische Stadt liegt am Meer und wie es der Zufall will, war ich selbst gerade dort. Sie hat architektonisch viel zu bieten, gerade was Gegenwartsarchitektur anbelangt. Kellner hat das Meer, die Bewegung und Gebäude am Hafen als Ausgangspunkt für seine Collagearbeit zum Thema Welle („Flucticulus“) genommen. Beim Bild einer Welle, und dazu noch, wo wir bereits soviel über das asiatische Raumverständnis gesprochen haben, denken wir an Hokusais Woge. Eine Hommage an ihn sind die kleinen Keramikarbeiten, die Kellner in diesem Raum ausstellt. Hinzu kommen Collagen, von denen einige mit „thumb nails“ erstellt wurden. Hier hat Kellner eine Vielzahl dieser kleinen fotografischen Abzüge, die im Digitaldruck oft als Vorschau für die Aufnahmen eines Filmes auf nur einem, kleinformatigen fotografischen Papier gezeigt werden, übereinander geschichtet und sie zu wellenförmigen Gebilden arrangiert. Sie zeigen den „Isbjerget“ (Eisberg), eine Architekturikone des neuen Aarhus, Weiß und Blau sind die strahlenden Farben des ungewöhnlichen Gebäudekomplexes, dessen Vorbild schwimmende Eisschollen sind.
Die Collage ist ein Kind des Kubismus und hier schließt sich der Kreis wieder zu den Eiffeltürmen. Im letzten Raum zeigt Kellner auf einer Zeitleiste weitere Projekte, Bilder mit der Lochbildkamera, Fotogramme, und ein noch im Entstehen begriffener Werkkomplex. Hier werden in Memoria an August Sanders umfangreiches fotografisches Unterfangen „Menschen der Zeit“, Männer und Frauen unterschiedlicher Berufe und Schichten in Siegen porträtiert. Ein Mikrozensus von einem Prozent der Einwohner vor die Kamera zu bringen, ist vorgesehen, der Werkkomplex wird dann auf mehr als tausend Aufnahmen anwachsen.
Betrachten wir also die Welt Kellners, die auch unsere Welt ist und bewundern wir die Stringenz eines vielfältigen, hochreflektierten, mit Kameratechnik, Kunst- und Fotografiegeschichte leichthin spielenden Werkes, lassen wir neugierig unsere Augen tanzen und vielleicht erreichen wir dabei mit Anne Truitt ein Gefühl „schwereloser Glückseligkeit“!