Vorauseilende Botschafter

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Die ikonische Kraft von Filmstills – eine Ausstellung in der Albertina

Marilyn Monroe im tief ausgeschnittenen weissen Sommerkleid labt sich an der kühlenden Luft, die an einem heissen Tag einem Schacht entsteigt, der Luftzug wirbelt den Petticoat hoch und zeigt ihre wohlgeformten Beine – wir kennen das Bild, das, fast lebensgross neben der Tür aufgehängt, den unscheinbaren Eingang zur «Film-Stills»-Ausstellung in der Wiener Albertina zu einem lockenden Portal in die Welt des Kinos transformiert. Wie eine Säulenheilige aus dem Himmel der Filmgötter entstiegen erscheint Marilyn hier, ihr Bild wird von einem Untoten, Murnaus «Nosferatu», flankiert, dessen erotisches Aktionsfeld die schwarze Nacht ist. Auch bei diesem Bild handelt es sich, wie schon bei der Aufnahme der ausgelassenen Marilyn, um ein Filmstill.

Marilyn Monroe und Tom Ewell in Das verflixte siebente Jahr, Regie: Billy Wilder, 1954 C. Sam Shaw Inc.- licensed by Shaw Family Archives, Privatsammlung

Eine unterschätzte Aufgabe
Filmstills sind auf potenzierte Weise vorauseilende Botschafter einer durch und durch künstlichen Welt. Auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, als wären sie den Filmstreifen selbst entnommen, trifft dies nur im seltenen Ausnahmefall zu, denn filmische Einzelbilder sind in der Regel zu unscharf für eine Vergrösserung. So werden Filmstills eigens ausserhalb oder während der Dreharbeiten aufwendig vom Standfotografen angefertigt; sie orientieren sich an im Film selbst gezeigten Szenen, an der Beleuchtung, an eingenommenen Posen, sind aber nicht mit ihnen identisch. Dem potenziellen Kinogänger sollen sie einen authentischen Blick auf das Filmgeschehen suggerieren, so als könne er über das Betrachten eines «Filmstandbildes» bereits einen unverstellten Blick auf die Welt des Films erheischen.

Lange Zeit handelte es sich um ein zwar merkantil überaus wichtiges, ästhetisch jedoch marginalisiertes Genre: Dennoch ist die Aufgabe und Tragweite von Filmstills nicht zu unterschätzen. Filmstills haben nichts Geringeres als einen multimedialen Spagat zu erbringen. Auf einem einprägsam gestalteten fotografischen Bild sollen Filmgeschehen und filmkünstlerische Ausführung, Stimmung und Botschaft so verdichtet werden, dass diese Aufnahmen, anders als die flüchtigen Filmbilder selbst, längerem Betrachten standhalten und dem Transfer in verschiedene Medien ästhetisch gewachsen sind. Dabei müssen Filmstills als primäres Ziel ihre appellative Wirkung zur Entfaltung bringen, unabhängig davon, ob sie im kleinen Format als grob gerasterte Pressebilder abgedruckt, manchmal von den Redaktionen beschnitten und retuschiert, oder aber als grössere Schaukastenbilder im Aussenbereich der Kinos ausgehängt werden. Dort sollen sie, wie einst die Jahrmarktsbesucher zum Eintritt ins Etablissement, die Schaulustigen zum Besuch des Kinos animieren.

Anonym, Werner Krauss, Conrad Veidt und Lil Dagover in Das Cabinet des Dr. Caligari, 1919, Österreichisches Filmmuseum

Walter Moser, dessen jahrelange wissenschaftliche Beschäftigung und Archivarbeit in eine konzentrierte Betrachtung einfliessen, verzichtet in seiner Eigenschaft als Kurator auf sinnenfreudige Ausstellungsarchitektur und vergangene Kinoherrlichkeit. Lediglich die Wahl von Farbe und Schriftart für die instruktiven Wandtexte zaubert sehr minimalistisch und doch wirkungsvoll das gut besuchte Kino der fünfziger Jahre vor unser inneres Auge. Filmstills, die zwischen 1910 und 1960 laut Moser ihren Zenit erreicht haben, arbeiten mit der Kraft der Imagination. Letztlich handelt es sich bei Filmstills, ähnlich wie bei Modefotografie, um inszenierte Fotografie.

Behutsames Entkleiden
Behutsam wie ein erfahrener Liebhaber das fotografische Versprechen dieser Bilder zu entkleiden, um Filmstills als eigenständige Bilder geniessen zu können, ist das Anliegen und Gebot der Ausstellung. Die Bilder lassen sich so in enger Verbindung zu historischen Tendenzen der Fotografiegeschichte lesen. Das Band spannt sich von der pikturalistischen Ära über avantgardistische Montageverfahren der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts (zu sehen sind schöne Beispiele eines anonymen Fotografen zu Walther Ruttmanns «Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt» und El Lissitzkys wunderbares «Kino-Auge» mit Dsiga Wertow) bis hin zum Autorenkino. Letzteres räumte seinen Fotografen bei der Ausbildung einer eigenständigen Handschrift einen ganz anderen Spielraum ein, als die eng auf den Massengeschmack ausgerichteten Vorgaben der Hollywood-Produktionsfirmen es zuliessen. Hier sticht ein anonymes Filmstill aus Pier Paolo Pasolinis «Accattone» besonders hervor: Es zeigt ungestüm aufspringende Männer in einer Tischszene vor einer schäbigen römischen Trattoria und erinnert in seiner Vitalität an eine berühmte Aufnahme von Helen Levitt aus dem New York der frühen vierziger Jahre, auf der mit einem Stock spielende Kinder auf tristem Gelände zu sehen sind.

Berlin, Sinfonie der Grossstadt – Deutschland 1927; Regie: Walther Ruttmann

Besonders auf frühen Aufnahmen fällt hingegen der mediale Unterschied zwischen bewegten Bildern und Fotoapparat unmittelbar ins Auge: Auf Fotografien aus der Stummfilmära lassen sich zum Beispiel die Unterschiede studieren, welche die zentralperspektivische Sicht der Plattenkamera der Bildsprache oktroyiert. Sie kann den besonderen, sinnverwirrenden Reiz der expressionistischen Kulissen im «Cabinet des Dr. Caligari» nicht einfangen, stattdessen aber die Akteure aus grösserer Nähe und mit Blick in die Kamera zeigen. Auch die vertikal ausgerichteten Ornamentlinien des Jugendstil-«Bühnenbilds» von Fritz Langs «Nibelungen» kämpfen mit der kameraspezifischen zentralperspektivischen Tiefenwirkung, die im Bewegtbild des Films – oder ist es die Erinnerung an den Film, die Massierung und Dauer der Bildeinstellungen? – eine intensivere Wirkung entfaltet.

Nicht selten spielen Filmstills in ihren Verführungskünsten expliziter mit angedeutetem erotischem Begehren, als der Film selbst es tut. Sie zeigen zu Zeiten der Filmzensur, wie im Fall von Erich von Stroheim, der sich ausrechnen konnte, welche Szenen herausgeschnitten würden, eine im Film nicht eigens zur Sichtbarkeit gebrachte, aber doch in ihm enthaltene Möglichkeitsform: Geschehnisse sexuellen Inhalts, die dort nur über die Montage kurz vor unserem inneren Auge aufblitzen, aber auch übersehen werden können, werden hier deutlicher visualisiert.

Anna Karina in Pierrot le fou, Regie: Jean Luc Godard, 1965
Privatsammlung © Georges Pierre

Ikonische Kraft
Ein schönes Beispiel dafür sind auch die Filmstills zu «Endstation Sehnsucht»: In der berühmten Treppenszene steigt eine Frau die Treppe hinunter, um sich in die Arme des begehrten Mannes zu werfen, die Stills zeigen in einer sequenziellen Folge den nackten, muskulösen Rücken des Mannes bei der Umarmung, kleine Veränderungen in der Bildfolge lassen ihn als Inbegriff lustvoller sexueller Aktivität erscheinen. Und auch Marilyns aufgewirbelter Rock entfachte zuerst im Filmstill von Sam Shaw seine ikonische Kraft. Sie zeigt und verspricht dort, vergleicht man das nachgestellte Filmstill mit der Filmszene selber, viel mehr, als der Film dann selbst einlösen kann.

Albertina Wien, bis 26. Februar 2017

zuerst erschienen am 21.01.2017 in der NZZ (internationale Ausgabe)