Die feinen Unterschiede

Der differenzierte Blick auf die Architektur der Ostmoderne im Fokus der Fotografie

(folgender Text basiert auf einem Vortrag, den ich am 05.12.2015 auf einer Tagung der Deutschen Fotografischen Akademie in Leipzig gehalten habe.)

Architektonische Relikte westlicher Schwerindustrie erfuhren in den letzten Jahrzehnten Aufmerksamkeit, Anerkennung und Pflege. Wie ein Blick auf den produktiven Umgang mit stillgelegten Zechen im Ruhrgebiet oder auch auf die Völklinger Hütte im Saarland zeigt, halten solch übrig gebliebene Anlagen, vor dem Verfall bewahrt und museumspädagogisch begleitet, auch die Erinnerung an untergegangene Produktionsformen wach: Die Lebensbedingungen im Maschinenzeitalter waren hart, aber die Arbeiten und Apparaturen selbst noch anschaulich und in ihren Abläufen im Großen und Ganzen zu begreifen. Funktionale, im neunzehnten Jahrhundert aber durchaus auch sehr repräsentative Industriebauten, zeigen eine eindrucksvolle Spannweite archtitektonischer Vielfalt, auch wenn man mit ihnen bei rauchenden Schloten nicht unbedingt ihre eigenwillige Schönheit und eindrucksvolle Wucht verband, sondern in erster Linie Schwerarbeit, Lärm und Schmutz.

Lassen Sie es mich vergleichen mit dem Blick auf die Landschaft: Ist man nicht mehr gezwungen, mit der Bestellung von Äckern und Feldern seinen Lebensunterhalt zu sichern, ändert sich die Sicht auf die Natur, man kann innehalten und statt sich dem Zustand des Bodens und der Pflanzen zuzuwenden oder besorgt die Wolkenbildung zu verfolgen, schweift der Blick frei über Gräser, Wälder und Hügelketten, die abwechslungsreichen Formbildungen von Wind und Wetter können in Ruhe betrachtet werden. Wobei man – zweifelsohne noch einmal anders sieht, wenn man darüber hinaus – Pflanzen und Gräser in ihrer Vielfalt zu unterschieden weiß oder auch von Geographie etwas versteht. Im Fall der Neubewertung von Industriebauten, ja Industrielandschaft waren es konzeptionell arbeitende Fotografen, allen voran, Bernd und Hilla Becher, die für die baulichen Hinterlassenschaften der Schwerindustrie im großen Maßstab, mit langem Atem und systematischem Vorgehen das Auge schulten. Auch nüchterne Zweckbauten – so lernte man rasch und auf visuellem Weg beim vergleichenden Betrachten ihrer Bildfolgen, die sie wie Botaniker zu Tableaus anordneten – unterscheiden sich in ihren gestalterischen, funktions- und standortbedingten Varianten: Ein bis dato kaum beachteter Reichtum tat sich in der zuvor als problematisch betrachteten Industrielandschaft auf.

War damit ein Durchbruch erreicht, der sich auch auf andere Felder der Architektur übertragen ließ? In den Fußstapfen der Bechers oder als eigenständige ästhetische Position wurde die Region fortan fotografisch vermessen: Von Trinkhallen (Tata Ronkholz) und unspektakulären Straßenzügen bis zu verlassenen Häusern und Dörfern (Laurenz Berges) reichten die Sujets und Werkreihen, um den rasch voranschreitenden Strukturwandel aufzuzeichnen. Trotz dieser Vorschule der Aufmerksamkeit gegenüber Zeugnissen der Alltags- und Industriearchitektur in westeuropäischen Städten oder Maschinen der Schwerindustrie scheint sich im Fall des industrialisierten Bauens der Ostmoderne der schon bekannte Prozess zu wiederholen: Erst im Moment des Verschwindens durch Rückbau setzt die Archivierung und Dokumentation der Bauten ein, beginnt Interesse aufzukeimen.

Recht spät also, dann aber spürbar, wendet sich die Aufmerksamkeit im 21. Jahrhundert der Ostmoderne der Chruschtschow-Ära und nachfolgender Epochen zu, sowie dem Baugeschehen in der ehemaligen DDR.

Zunächst geraten zeichenhafte, ungewöhnliche „Sonderbauten“ der UDSSR in den Blick und damit repräsentative Gebäude für gesellschaftliche Anlässe, für die mehr Budget, mehr gestalterische und planerische Freiheit vorgesehen war als für den Bau von Wohnanlagen. So zum Beispiel „Hochzeitspaläste“, in denen Trauungen vorgenommen wurden oder andere Kulturbauten: In ihrem für das westliche Auge aufdringlichen Repräsentations-Anspruch muten die oft brutalistisch inspirierten Gesellschaftsbauten der UDSSR langezeit vor allem als sonderbar an – Frédéric Chaubin erfasste sie 2010 in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion und setzte sie fotografisch so in Szene, dass sie in ihrer schieren Dominanz und Andersartigkeit wie aus der Zeit gefallene Meteoriten die forschende Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Im Jahr 2012 widmete dann das Wiener Architekturzentrum der Sowjetmoderne eine Ausstellung im Rahmen des gleichzeitig stattfindenen Architekturkongresses. Bereits ein Jahr zuvor hatte an der Bauhaus-Universität Weimar ein Symposium zum Thema „Denkmal Ost-Moderne“ einen wegweisenden Auftakt gesetzt. Spielerisch künstlerische Arbeiten waren um die Jahrtausendwende dem vorausgegangen, wie ein Quartett oder ein auf CD Rom erhältliches, digitales Memory zum Plattenbau von Anett Zinsmeier oder ihre Installation von 2007, die Plattenbaufassaden zum Ausgangspunkt nimmt.

Roman Bezjak: St.Petersburg 2009

Die Forschungen unseres Jahrzehnts nehmen Spielräume und persönliche Haltung von Architekten in den Blick, die erstmals wie ihre Kollegen im Westen als gestalterisch wirkende Persönlichkeiten wahrgenommen werden. Das hat ein Stück weit rehabilitierenden Charakter: Die Menschen hinter der riesigen Planungsmaschinerie erhalten als durchaus engagierte und zuversichtliche Architekten, die Schwerpunkte setzten, jetzt Namen, Geschichte und Gesicht. Sie hatten zwar mit rigiden Vorgaben, zu kämpfen, vor allem was die Wirtschaflichkeit ihre Tuns angeht, oder wie der Architekt und Architekturhistoriker Philipp Meuser es formuliert, dem „städtebaulichen Diktat der auf Effektivität ausgerichteten Anordnung der Gebäude“. Darüber hinaus galt es, mit billigem, wenig sinnlichen Bau-Material auszukommen.

Angesichts der immensen Wohnungsnot nach den Weltkriegen hatte Chruschtschow 1955 in einer epochemachenden Rede gefordert, fortan ohne jegliche Form der „Verschwendung“ auszukommen: Aufwendige Fassadengestaltung oder edles Material wurden vehement als „architektonische Übermässigkeiten“ angeprangert – unter namentlicher Rüge von zuvor mit hohen Auszeichnungen bedachten Architekten aus der Stalinzeit, denen zum Teil posthum die verliehenen Preise auch wieder aberkannt wurden. Flächendeckend sollte kostengünstiger, einfacher Wohnungsbau für die Massen in Angriff genommen werden. So wurde industrialisiertes Bauen das Gebot und Diktat der nächsten Jahrzehnte, die Durch- und Umsetzung der neuen städtebaulichen Maximen erwies sich in der Regel als rücksichtslos. Dennoch gelang es immer wieder – mit manchmal nur geringen Abweichungen vom vorgegebenen Standard – den Rahmen des Zusammenlebens der Bewohner auch mit „armen“ Lösungen anders zu setzen, die generellen Vorgaben anders zu gewichten und damit ein Stück weit angenehmer zu gestalten. Sie bleiben dennoch Varianten innerhalb des seriell Modularisierten, wobei in den zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion auch regionale Elemente in die Gestaltung einfließen durften und sollten, um so etwas wie eine nationale Formensprache auf ausgewiesenem Terrain zu berücksichtigen.

Ornamente und Mosaiken
Das heutige Interesse für die feinen Unterschiede innerhalb der Architektur der Ostmoderne, die sich erst allmählich aus der Anonymität zu lösen beginnt, setzt auf Differenzierung und retrospektiv erworbene Kennerschaft.

Taschkent Giebelfassade - Foto © Philipp Meuser

Denkmalpflege, Architekturhistoriker_innen und Fotografen stehen im Fall der Ostmoderne vor einer schwierigen Aufgabe: spezifische, baukulturelle Eigenheiten, die im Überdruss angesichts der Hinterlassenschaft der ungeliebten Regime lange übersehen wurden, sind ausfindig zu machen und in ihrer Gesamt-Aussage zu begreifen. Die Architekten Martin Maleschka und Philipp Meuser zum Beispiel nehmen in ihren fotografischen Arbeiten häufig Ornamente in den Blick. Meuser erfasst die von islamischen Formen inspirierte Fassadengestaltung in Taschkent beim großangelegten Wiederaufbau nach dem verheerenden Erdbeben im Jahr 1966. Die Pläne, so das Resultat seiner bauhistorischen Forschungsarbeit, waren wohl schon in der Schublade, da man die Lehmbauten der zum Teil nicht an Kanalisation und Strom angeschlossenen, orientalischen Altstadt früher oder später flächensanieren wollte. Für viele der Mosaiken zeichnen die Brüder Alexander, Pjotr und Nicolaj Scharskij verantwortlich, die als einige der wenigen Mosaizisten auch außerhalb der Fachkreise namentlich bekannt sind. Aber nicht nur im Hinblick auf Mosaiken entstanden im wiederaufgebauten Taschkent, so der Schriftsteller Martin Mosebach „die schönsten Plattenbauten der Welt mit Beton-Erkern, kühnen Treppentürmen, mit schönen Betonschmuckteilen, Atelierfenstern, runden Kajütenluken und unregelmäßig geformten, hundertfach übereinander getürmten Balkons.“

Martin Maleschka fotografiert Moasikarbeiten, Kacheln und brutalistisch inspirierte Betonbauten in Ostdeutschland. Selbst in einem Plattenbau aufgewachsen, erfreut sich Maleschka an der Proportion der (in Ostdeutschland am häufigsten eingesetzten) Großplatte WBS 70 und der charakteristischen Sichtbarkeit der Fuge in vertrauter Rasterung, auch wenn gerade diese Platte, als Inbegriff des monotonen Bauens in den Städten der DDR galt. Ebenso schätzt Maleschka, wie er in einem Interview für die „Wohnbaugesellschaft Mitte“ darlegt, geometrisch ausgerichtete, grafische Elemente der Wandgestaltung und skulpturale „Kunst am Bau“. Denn hier ist eine in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzende Bildsprache am Werk: In ihrer Klarheit, schieren Größe, Dynamik und Farbwahl hat sie Kindheitserinnerungen einer oder sogar mehrerer Generationen geprägt. Lebensgeschichtlich hat sie bei manch einem ehemaligen Bewohner damit einen nicht nur als negativ empfundenen Nachhall hinterlassen. Und hegen nicht gerade Kinder eine besondere Freude am Ornament, das sie in seiner verlässlichen Wiederkehr auch zu Ausflügen in die Welt der Fantasie, zu kleinen gedanklichen Abschweifungen einlädt, die ein Stück kindlicher Identität ausmachen? In der „Berliner Chronik“ ist dies zum Beispiel von Walter Benjamin seinerzeit für langweilige Schulstunden im Kaiserreich beschrieben worden. Dieser Impuls zu bilderreichen Assoziationen mag auch für die Ornamente der Ostmoderne gelten, so man sie täglich auf seinem Weg zur Arbeit oder zur Schule vor Augen bekam.

Von Schrauben und Klingelknöpfen
Zieht man indes als Erwachsener aus, die feinen Unterschiede im nur scheinbar Allzugleichen zu entdecken, gilt es das massenhafte Auftreten gleichartiger Bauformen als genuines Kriterium für ästhetische Wertlosigkeit zu durchbrechen.

In den Blick genommen wird für den Denkmalschutz in Deutschland bisher der sorgfältig begutachtete Einzelfall, der vom Abbruch und den nicht immer gelungenen Verschönerungsbemühungen bis heute verschont geblieben ist. Man versucht eine Anlage möglichst im Originalzustand aufzuspüren und dann zu vermitteln, wie sich kleine Details zu einem stimmigen Ganzen im Ensemble schließen. Bald aber stellt sich ein Problem, ähnlich dem, das wir bei den heute als allzu eingreifenden Restaurierungsmassnahmen des 19. Jahrhunderts mit dem Verdikt des „Totsanierens“ belegt haben, ein bekanntes Beispiel dafür ist das Wirken von Eugene Violett-Le-Duc in Frankreich.

Ist die Gestalt eines Baukörpers mit der jeweilig aktuellen Formensprache des Sanierers weitgehend überschrieben, wird es später schwierig, das einstige Zusammenspiel der Elemente zu erkennen. Und dieses kann wohldurchdacht gewesen sein: Etwa bei der ersten Generation von Großplattenbauten in der Berliner Karl-Marx-Allee, wie Gabi Dolff-Bonekämper einem Filmteam der Wohnbaugesellschaft Mitte ihre diesbezüglichen Forschungen darlegt. Von der Schraube bis zum Klingelknopf war alles zuvor vom Architekten auf einer Zeichnung festgelegt worden. Großer Wert wurde dabei auch auf die typografische Gestaltung der Hausnummern gelegt. Jedes Detail trägt so die ästhetische Signatur der Epoche, die in ihrer Eigenheit und der spezifischen Aussage ihrer Materialien erst wieder aus den Relikten erschlossen werden muss.

Sanieren nach den ästhetischen und heute auch energetischen Bedürfnissen der eigenen Zeit und der Erhalt der historischen Formensprache sind gegenläufige, oft sehr konträre Prozesse. Manch eine schnell vorgenommene Wärmedämmung lässt von der Fein-Gliederung der Fassade nicht mehr viel übrig, wie der Leipziger Architekturhistoriker Arnold Barteszky in einem Artikel der „Deutschen Bauzeitung“ 2008 zur schwierigen Situation beim Erhalt der polnischen Zwischenkriegsarchitektur beklagt. Gleiches gilt auch für aus späterer Zeit stammende Bauten. Jede Epoche muss in der bewussten Gestaltung ihrer Gegenwart neu über ihre eigenen Wertsetzungen, aber auch ihre zeitspezifische Überheblichkeit gegenüber dem jüngst Vergangenen, das man hinter sich gelassen hat, nachdenken. Die Situation verschärft sich, wenn, wie im Fall der sozialistischen Architektur und des industrialisierten Bauens erschwerend hinzukommt, dass die zur Debatte stehenden Gebäude und Wohnkomplexe zunächst nur als in Beton gegossener Ausdruck einer überwundenen Herrschafts- und Gesellschaftsform betrachtet wurden. Und überdies drängen auch heute Geldmangel und finanzielle Interessen von Investoren zu schnellen Entscheidungen über Erhalt oder Abriss. Dies geschieht im Westen wie im Osten und baugeschichtlich heute als bedeutsam erachtete Zeugen der Ostmoderne, ja Architekturikonen wie das Supersam, ein Kaufhaus in Warschau, die Großgaststätte Ahornblatt in Berlin und nicht zuletzt der „Palast der Republik“ fielen wie viele andere dem Abriss zum Opfer, manches bereut man wenig später. Auch der Abriss des Kattowitzer Bahnhofs – mit seiner brutalistischen Kelchkonstruktion ein herausragenders Bauwerk des Brutalismus – schon beim Rückbau von Protesten aus Architekturkreisen begleitet, Bereits kurze Zeit nach seiner Zerstörung wurde das Vorgehen von Polens General-Denkmalkonservator als Fehlentscheidung und „grobe Rechtsverletzung“ gebrandmarkt. „Dieser Bahnhof wurde wegen des Drecks abgerissen“, kommentiert Thomas Malkowski, Kattowitzer Architekt und Journalist, um den Erhalt des Bahnhofs kämpfte, das Überwiegen einer aktuellen Misere vor bauhistorischen Gesichtspunkten.

Hätten Architekturfotografen, die, über das rein Dokumentarische hinausgehend, in ihren Licht- und Bildkompositionen – aber in der Regel ohne Menschen und im unschuldigen Zustand der baulichen Frische – das Potential von Raumerlebnissen vor Augen führen können? Und hätte man mit solchen Aufnahmen der Ignoranz der Behörde, die aber möglicherweise auch bedeutende Architekturfotografen nicht kennen, entgegentreten, ja sie womöglich zur Einsicht bewegen können? Einsprüche der lokalen Abteilung des polnischen Architektenverbandes und der polnischen Sektion des Internationalen Rats für Denkmalpflege blieben jedenfalls angesichts der massiven Investoreninteressen bis zum Abriss unbeachtet.

Fotografien in der Denkmalpflege scheinen, ob aus Kostengründen oder Unverständnis bleibt dahingestellt, keinen allzu hohen Stellenwert zu genießen: Schaut man auf Webseiten der deutschen Stiftung Denkmalschutz zum Denkmalstag oder in die online Zeitung Monumente oder manch urbanistische Publikation, kommt man ins Grübeln, was die Auswahl der Fotografien anbelangt – offensichtlich ist die Bedeutung von Architekturfotografie für die Wahrnehmung eines Gebäudes in solchen Kontexten noch nicht problematisiert worden.

Bedarf es als ästhetischer wie wissenschaftlicher Rahmenbedingung vor allem langfristiger und systematisch arbeitender Vorgehensweisen? Wie zum Beispiel bei den Bechers oder den bauhistorischen und von Fotografien wohlbegleiteten Arbeiten Philipp Meusers, die den großen Horizont des bauhistorischen Erbes auch im Bauen für den Alltag und nach langem Gebrauch und bereits einsetzenden Verfall aufzeigen? Können herausragende oder auch nur für eine Zeit typische Stücke, unabhängig davon in welchem Zustand und welchem Kontext sie sich gegenwärtig befinden, dann von vornherein besser wahrgenommen und eingeschätzt werden?

Rein subjektive Beweggründe haben nach eigenen Äußerungen bei Bernd Becher, der – sozusagen im Schatten ehemaliger Hochöfen (Heiner-Hütte) im Siegerland aufwuchs – oder Martin Maleschka, der seine Kindheit im Plattenbau verbrachte, eine Rolle für das Aufspüren des vom Verschwinden Bedrohten gespielt: Ob das Erbe der sozialistischen Architektur als städtebaulich verfehlt und lediglich von ökonomischen Zwängen bestimmt oder als exemplarisch erhaltenswertes Ensemble und Ausdruck einer Zeit verstanden wird, ob innerstädtische Freiflächen und breite Magistralen als zu groß und gleichförmig oder als harmonische Entsprechung zu hohen Wohntürmen in der Fläche begriffen werden – das kann möglicherweise einen biografisch verankerten Hintergrund haben: ähnlich wie die Vorliebe oder Abneigung gegenüber dem Blick in die Ferne, der sich einem in der norddeutschen Tiefebene eröffnet. Der dort Geborene begrüßt die flache Landschaft als wohltuend weit. Derjenige hingegen, der in einem von Hügelketten durchzogenen Landstrich aufgewachsen ist, empfindet den freien Blick eher als eintönig, da sich dem umherschweifenden Auge kein visueller Halt bietet.

Mediale Vermittlung
Neben frühen Prägungen in der Kindheit ist solch unterschiedliche Wertschätzung aber auch durch mediale Vermittlung beeinflusst: Wer Fotografien von Stadtansichten und Wohnanlagen betrachtet, wird geleitet von der Aufnahmetechnik und den kulturellen Sehgewohnheiten einer Zeit. Bilder aus den Sechziger und Siebziger Jahren betonen in Ost wie West das Ordentliche und Aufgeräumte, die augenfällige Geometrie einer Anlage, sie erzählen vom Glauben an den nicht aufzuhaltenden gesellschaftlichen Fortschritt durch rationale Planung, Licht und Hygiene.

Vorfabrizierte Bauformen in großen Wohnkomplexen waren einst Hoffnungsträger der Moderne: Standardisierten Komfort für alle, zu erschwinglichen Preisen, versprach man sich. Und wie Philipp Meuser in seinem Grundlagenbuch zur „Ästhetik der Platte“ darlegt, ist die Sowjetmoderne nicht aus dem Nichts heraus entstanden. Auch wenn sie im damals 170 Millionen Einwohner umfassenden Herrschaftsgebiet wie nie zuvor im großen Maßstab industrialisiertes Bauen mit Typenplanung, serieller Fertigung und Elementenkatalog für Bauteile konsequent durchgesetzt wurde.

Vorbild waren die Fertigungsstraßen der Autoindustrie, das erste in der Sowjetunion in Lizenz gekaufte Plattenbausystem stammt von einem französischen Ingenieur, Raymond Camus, der zuvor bei Citroen gearbeitet hatte. Für einige Jahre ins Land gelockte und dann doch wieder aus finanziellen Gründen entlassene, im Westen bewährte Experten des Städtebaus wie der Schweizer Hans Schmidt oder der ehemalige Frankfurter Stadtbaurat Ernst May waren maßgeblich daran beteiligt, Know How aus den Zwanziger Jahren, das man sich beim „Neuen Bauen“ erworben hatte, miteinzubringen. Und Le Corbusier, der 1925 vorschlug, die Pariser Innenstadt abzureißen – nur Saint Chapelle und Notre Dame fanden vor seinen Augen Gnade – und durch moderne Wohnblocks zu ersetzen, verwirklichte, eher er in Marseille seine Wohngroßprojekt „Unité d’Habitation“ umsetzte, ein erstes Bauvorhaben 1932 in Moskau (später wurden seine theoretischen Schriften ins Russische übersetzt).

„Welche Kriterien will man formulieren, wenn es darum geht ein Gebäude zu dokumentieren oder gar unter Denkmalschutz zu stellen, das dutzend oder gar hundertfach auch andernorts errichtet wurde“, gibt Philipp Meuser als Forschungsfrage zu bedenken und entwirft ein ganz anderes Szenario. Seine Vorschläge zielen darauf, Bestimmungen und Verortungen innerhalb eines Clusters oder Rasters vorzunehmen, das einen Platten-Bau innerhalb von Faktoren seines Zustandekommens bestimmt. Diese reichen vom zugrundeliegenden Planungsprozess über das verwendete Baumaterial, die Fassade, die Geschosszahl und Erschließung bis hin zu Transport und städtebaulicher Figur. Ein anderer Bauhistoriker, der polnische Architekt Kuba Snopek, macht sich in einerbenfalls im DOM publishers Verlag erschienenen Publikation „Belyayevo Forever- A soviet Microrayon on its way to the Unesco List“ für die Aufnahme des typischen sowjetischen Mikrorayons – baugleich geplante, in ihrer Grund-Anlage vorhersehbare Siedlungen in der UDSSR – auf die Unesco Welterbeliste stark. Und er tut dies mit dem Argument, dass es sich hier um eine konsequent und flächendeckend verfolgte konzeptionelle Logik im Städtebau handle, die auch Positionen der zeitgenössischen Konzeptkunst inspiriert habe. Der Mikrorayon gruppiert Wohngebäude um elementare Versorgungsbauten wie Schulen und Kindergärten, aber auch Kinos – für die es, abhängig von der Bewohnerzahl Vorschriften für die fußläufige Erreichbarkeit gab (5 bis 15 Minuten). Und auch Snopek ist der Ansicht, dass die Stärken der Architekten darin bestanden, ihren kleinen Spielraum vor Ort zu nutzen, um eine unprätensiöse, einfache, aber doch maximal bequeme und komfortable Lebensumgebung zu schaffen.

Roman Bezjak: Nis 2005

Heute werden in fotografischen Arbeiten, gerne auch die Details und das Ungewöhnliche, Herausspringende und Uneingelöste der einstigen Träume vom besseren Leben gezeigt. So in Roman Bezjac’s Projekt „Sozialistische Moderne“, das den baulichen Zustand der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts in den Staaten des ehemaligen Ostblocks fotografisch festhält. Gerne wird in den Blick genommen, was die Bewohner aus ihrem Wohnumfeld gemacht haben: Einfamilien-Würfel-Häuser in Ungarn, mit Farbe und ornamentalen Verzierungen nach individuellem Gusto verschönert (der größeren Plausibilität zuliebe auf ihren Fotos digital nachbearbeitet) zeigt Katharina Roters. Manch eine individuell zusammengetragene Einrichtung eines heutigen Wohnzimmers im standardisierten Grundriss des Plattenbautyps „P 2“ erscheint skurril, manches unerwartet stilvoll, studiert man die Aufnahmen von Susanne Hopf und Natalja Meier oder aber es kann auch berühren wie bei Meuser, der den Bewohner einer Chruschtschowa zeigt.

Auf städtebaulicher Ebene zeichnet sich in ostdeutschen Städten ein Hang zur vormodernen Kleinteiligkeit und zum Verstecken der genuinen Formensprache der Ostmoderne ab: Großzügig konzipierte oder auch als monoton und entleert empfundene Freiflächen werden verdichtet und zugebaut, kleinräumige städtebauliche Vorkriegssituationen nachträglich wiederherzustellen versucht. So geraten Mosaike, Wandbilder und Sonderbauten, auf denen einst der frei schweifende Blick weilen konnte, in eine planerisch so nicht vorgesehene „Hinterhofsituation“.

Unversehrt gebliebene Zeugnisse einer Epoche, die ein Gefühl für das Ganze und seine Konzeption vermitteln, erhalten sich unter solchen Umständen nicht, bestenfalls wird exemplarisch archiviert – mit spät erworbenem Fingerspitzengefühl und mühsam gewonnenem Distinktionsvermögen.

erwähnte Fotografen
Frédéric Chaubin: CCCP Cosmic Communist Constructions photographed, Taschen 2011
Roman Bezjak: Socialist Modernism, Hatje Cantz 2011
Philipp Meuser: Die Ästhetik der Platte. Wohnungsbau in der Sowjetunion zwischen Stalin und Glasnost. Dom publishers 2015
Susanne Hopf, Natalja Meier: Plattenbau Privat, 60 Interieurs, Nicolai 2004
Katharina Roters: Hungarian Cubes. Subversive Ornamente im Sozialismus, Park Books
Martin Maleschka auf Flickr

Ich bedanke mich bei Roman Bezjak und bei Philipp Meuser für die Erlaubnis zur Veröffentlichung ihrer Bilder.