In urbanistischen Diskussionen, die sich der Peripherie zuwenden, bleibt die künstlerische Fotografie marginalisiert. Dabei nimmt gerade sie die Besonderheiten des Gewöhnlichen in den Blick und schult das Auge für die Vielfalt kleiner Fluchten.
Die Mehrzahl der Bewohner einer großen, gar städtebaulich bedeutenden Stadt lebt heute nicht im Zentrum, sondern in Quartieren außerhalb der historischen Altstadt, in denen sich das Leben ganz anders abspielt als inmitten von glanzvoll restaurierten Bauwerken, malerischen Brücken und den Fußgängern zurückgegebenen Plätzen. Früher oder später kommt daher auch für den Städtereisenden, der nicht nur einem klangvollen Namen seine Referenz erweisen will, die Frage auf, wie sich der gewöhnliche Alltag der Stadtbewohner eigentlich gestaltet. Und als tatsächlich authentisch erweist sich dann eben nicht das kaum mehr bezahlbare Wohnen in der Altstadt, sondern das Leben in der Agglomeration, der Vorstadt, der Siedlung oder jener Mischform aus Stadt und Land, die in der Regel von beidem nicht eben das Beste mitgebracht hat.
In den Urbanistikdebatten der letzten 25 Jahre ist viel von „Bildern“ die Rede, inneren Bildern, welche den Bewohnern der Peripherie, die seit der von Thomas Sieverts in den späten Neunziger Jahren vorgenommenen Neubestimmung gerne auch „Zwischenstadt“ genannt wird, zur Selbstversicherung und Autonomie noch immer fehlen würden. Mehr und mehr wird der „Mythos der alten Stadt“ als ein durch Reiseberichte, Literatur und Malerei erzeugtes Sehnsuchtsbild deutlich, das sich von den tatsächlichen, historischen Lebensbedingungen in einer Stadt oder den restaurierten und sanierten Stadtkernen grundlegend unterscheidet. Zu laut, zu engräumig, zu umtriebig, zu stinkend, zu ungesund wären indes die früheren Städte für den heutigen westlichen Verfechter von Urbanität. Thomas Sieverts geht so weit, die Verdichtung von Lebens- und Arbeitssituation in der historischen Stadt mit der Lage in den dicht besiedelten Megatowns unterentwickelter Länder zu vergleichen.
Allerdings fristet in diesen Diskussionen um das Leben in den neu entstandenen Regionen der Zwischenstadt, bis auf wenige Ausnahmen, die Fotografie immer noch ein Randdasein. Häufig werden selbst geknipste Fotos der Autoren zur Illustration herangezogen oder man beklagt, so Fotografie überhaupt ein Status jenseits der Dokumentation zugewiesen wird, dass Fotografen, die sich künstlerisch der Peripherie nähern, nicht mehr zuwege bringen würden als sie einmal mehr als unwirtlichen, der Ordnung und Individualität entbehrenden Lebensraum zu zeigen.
Ich fotografiere, um zu sehen, wie die Welt fotografiert aussieht
Tatsächlich liegt das Augenmerk vieler Fotografen, die in der Tradition der amerikanischen „New Topographics“ stehen, zunächst auf strukturellen Gemeinsamkeiten, einer Art mentalen Karte, die sich – potentiell weltweit – vor ihnen ausbreitet: „Ich sehe, wie die Welt fotografiert aussieht“, schrieb schon Garry Winogrand.
So in „Anonymizaton“ (2012, Kehrer Verlag) von Robert Harding Pittmann, der Fertighäuser (mit minimalem Spielraum für die Gestaltung) zeigt, den Schwung der Begrenzungsstreifen leer gebliebener Parkbuchten oder den genügsam begrünten Kreisverkehr vor den blauen Ikea-Häusern inmitten von großzügig angelegten Parkplätzen, die in wasserarmen Gebieten den Boden weiter versiegeln oder künstlich bewässerte und egalisierte Rasen in Golfanlagen. Anders als beim Anblick von Schienen und Zügen zu früheren Zeiten kommt da kein Fernweh auf, sondern es ist eher die Trauer des trotz aller Mobilität gar nicht erst Weggekommenseins: „Alles ästhetisch anspruchslos, verlassen und ökologisch noch problematischer als zuhause!“, ist man versucht zu urteilen. Lediglich Kräne, die in hoffnungsvollen Frühlingsfarben wie Krokusse in einen tiefblauen Himmel ragen, entführen rein visuell aus der Tristesse.
Als ebenfalls programmatisch für diese Sichtweise steht auch der Fotoband „Die deutsche Aussicht“ von Oliver Kern (2012, Hatje Cantz), der in Bildausschnitt, Komposition, aber auch der Körpersprache ihrer Bewohnter und Betrachter das Belanglose der Alltagserfahrung in lieblos gestalteter Umgebung besonders hervorkehrt.
Wird man in naher Zukunft auch das Reizlose liebgewinnen?
Wird es uns mit diesen flächendeckenden Stereotypen von Wohnformen und Infrastruktur, ungeachtet ihrer Bedrohung für die Varietät der Umwelt, einmal so ergehen wie mit anderen Objekten des täglichen Gebrauchs?
Denn manch über Jahre vertraute „Begleiter“ des täglichen Lebens bleiben, ob wir das wollen oder nicht, gerade wenn sie verschwunden sind, als stabilisierende und idealisierte Konsum-Faktoren unseres längst vergangenen Alltags im Gedächtnis. Bei Erkennungsmelodien von abgesetzten Fernsehsendungen ist das so. Oder – um auf eine visuelle Verlusterfahrung aus meiner Region zurückzugreifen: Bis heute wird der fehlende Anblick des Gasbehälters beklagt, den man bis zu seinem inzwischen schon Jahrzehnte zurückliegenden) Abriss vom Schwarzwald kommend, auf der Autobahn als erstes von meiner Geburtsstadt zu sehen bekam. Seine markante Silhouette fehlt dem Fahrer (wohlgemerkt den Autofahrer, nicht den Fußgänger).
Könnte man also auch in Frank Breuers Container oder Firmenlogos, die isoliert in reizarmer Umgebung wie Denkmäler oder Plastiken statt auf einem Sockel auf einem Pfahl thronen („Logos, Warehouses, Containers“ 2006, Fiedler Contemporary), einen schützenswerten Status quo erkennen? Er würde nicht nur an die Absurdität unseres modernen Lebens erinnern, sondern könnte möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft so emotional besetzt sein wie das DDR-Ampelmännchen?
Aber darf das überhaupt alles zu einer Frage der Gewöhnung werden – und irgendwann ist es zumindest zu einem Teil der eigenen Geschichte geworden, die durchaus in einer Altersgruppe kollektive Erinnerungen auszulösen vermag?
Die Frage nach der Gewöhnung – das betrifft indes auch unser Verhältnis zur Landschaft. Wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen werden, dass es Landschaft in vielen Regionen nur noch in Ausschnitten zu sehen gibt, da es bald nicht mehr unbebaute Landschaft ist, die Dörfern und Städte umschließt, sondern noch frei gebliebenes Land mehr und mehr zum Residuum zwischen bebauten Flächen gerinnt.
Zusammenhängende Landschaftsgebiete gibt es, auch in Deutschland, indes schon noch. Ihre genuine Schönheit konnte lange Zeit nicht unbefangen wahrgenommen werden. Deutsche Landschaft durfte nur unter Vorbehalt schön gefunden werden, zu schwer lastete auf ihr die deutsche Geschichte, zu schnell geriet man in den Verdacht des Bieder-Gestrigen, des Romantisieren-Wollens und Verkitschens. So schreibt dann auch Peter Bialobrzeski im Geleitwort zu seinem Fotobuch „Heimat“ (2005, Hatje Cantz), er habe der Idee nachgegeben „… etwas ’schön‘ zu fotografieren, was nicht schön zu sein hatte: die deutsche Landschaft.“ Da sieht man dann wie in altniederländischer Landschaftsmalerei Panoramen von der Ostsee bis zum Schwarzwald – stets mit tätigen Menschen darin, die sich allein, zu zweit, oder in wohl bemessenem Abstand auch zu vielen, an dieser Landschaft erfreuen. Ganz anders als in seinem Band „Lost in Transition“. Dort werden weltweit uniformierter Städtebau, groteske Schilderlandschaften, der Slum vor dem Hochhaus gezeigt, stets, wie auch bei Robert Harding Pittmann, ohne Menschen. „Leere Welt. Über das Verschwinden der Menschen aus der Architekturfotografie“ (2012, Manutius) heißt dann auch der Titel eines Buches von Andreas K. Vetter. Dieser in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzende Prozess, so Vetter, zielt darauf ab, mit der Fotografie vor allem nicht vom „architektonischen Objekt“, dem „anvisierten Ideal“, abzulenken.
Balance zwischen Komplexität und Unterforderung
Ob menschenentleerte, unwirtliche Infrastruktur gezeigt wird oder gelebtes Wohnen und Arbeiten lässt ein sehr unterschiedliches Bild einer Region entstehen. Das Leblose, Menschenleere kommt natürlich nicht von ungefähr, sondern ist ein Zustand, auf den man, zumindest an der Peripherie, zur Arbeitszeit nicht lange warten muss. Aber ist all das nicht auch eine Frage der Konditionierung und der gewählten Form des Zusammenlebens? Etwas, das sich verändern ließe oder das mit den Bewohnern dem sozialen Wandel unterliegt? Rufen Fotografien, die nur die zur Verfügung stehende Infrastruktur, nicht aber die Menschen zeigen, zum aktiven Bewohnen auf oder stabilisieren sie die Ratlosigkeit zu einer Dauer-Klage, die seit Alexander Mitscherlichs „Unwirtlichkeit der Städte“ noch aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in das einundzwanzigste hinüberhallt? Der Architekt Holger Reiners hat in seinem Buch „Brauchen wir noch Architekten?“ ((2012, DVA) ) die schwierige Situation für den durch virtuelle Kommunikationsangebote und fordernde Arbeitssituationen oft an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit gekommenen Menschen des 21. Jahrhunderts beschrieben: Eine gewisse Entlastung von Komplexität, besonders im visuellen Bereich scheint zur Orientierung notwendig zu sein. Gerade auch im heimischen Feld, selbst wenn es als ästhetisch unbefriedigend empfunden wird, möchte man am liebsten alles so belassen, wie es eben ist. Aber visuelle Unterforderung ist schädlich, ja beleidigend.
Dies scheint auch ein Problem fotografischer Systematisierung zu sein. Ein Tableau oder eine Werkgruppe kann für die Eigentümlichkeit einer bisher übersehenen Formensprache, die einem bestimmten Objekt eigen ist, sensibilisieren oder aber sie durch serielle Wiederholung desavouieren. Visuelle Komplexität und eine vom Gebrauch verliehene Patina, wie bei den von Bernd und Hilla Becher als ästhetische Objekte und Kulturgut entdeckten Hochöfen und Wasserspeicher ist indes nötig, um in einer Bildserie Abweichungen von einem Prototyp als ästhetische Spannung goutieren zu können („Anonyme Skulpturen. Eine Typologie technischer Bauten“, so der programmatische Titel einer frühen Publikation der Bechers). Bei Containern, Reihenhäuser vor ihrem Bezug, oder rasterförmigen Straßenführungen und Siedlungen wird das schon schwieriger. Oder es bedarf – wie bei der Arbeitsweise der Bechers – nicht des schnellen Zugriffs, sondern erfordert jahrelange systematisierende Erfassung, Hingabe und anspruchsvolle visuelle Inventarisierung.
Herz für das Imperfekte
Man kann sich dem Spannungsfeld von visueller Komplexität und Entlastung in der Architektur der Peripherie mit Witz nähern. So etwa wie es Gerhard Vormwald in einigen seiner über 90 Fotografien umfassenden Architekturcapricchos „Concrete illusions“ (www.gerhard-vormwald.de) tut, wenn er das Menschen innewohnende Bedürfnis nach individueller Gestaltung, nach der kleinen „Heimat“ digital umsetzt. Seine auf dem Land oder in der Stadt gefundenen, etwas verdrossen herumstehenden Häuser werden mit all dem ausgestattet, was das Herz eines Bauherren höher schlagen lässt, der aus seinem Häuschen ein individuelles Album alteuropäischer Behaglichkeit machen möchte, ohne die Strenge formaler Konsequenz, die die Moderne ihm abverlangt und ohne die verquälte Distanz der Postmoderne. Damit dies, wie geschehen, auf dem Bild gut geht, ist indes ein fein ausgebildetes Proportionsgefühl notwendig.
Solch Lockerheit und unbekümmerter Witz beweist Herz für das Imperfekte, das Basteln und Werkeln, das an archaisch- autonomen Beschäftigungen gleich nach dem Sammeln und Jagen kommt. In den uniformen Siedlungen an der Peripherie ist dies zunächst nur bedingt vorgesehen oder wird, sollte sie jemand allzu individualistisch praktizieren, von den Nachbarn als soziale Abweichung beäugt oder auch als unbeholfener Dilettantismus von Architekturkritikern an den Pranger gestellt. Nur allmählich beginnt sich das Blatt zu wenden, wird der Blick auf die Speziallösungen aus dem Baumarkt wieder etwas liebevoller. Und man entdeckt das Ausbessern und Basteln, selbst wenn es, was oft der Fall ist, ästhetisch missfällt, doch als einen Akt der Autonomie und Selbstermächtigung. Und ist nicht manch einer von der Kernstadt aufs Land oder in die Siedlung gezogen, um mehr Raum fürs ungestörte Werkeln in Keller oder Verschlag zu haben?
Lernen von New York und Mülheim
Rückgewinnung von Autonomie thematisieren indes zwei im Prinzip konträre Arbeiten. „Von New York lernen. Mit Stuhl, Tisch und Sonnenschirm“ (2013, Hatje Cantz) von Susanne Lehmann-Reupert – leider mit für das Metier üblichen selbstgeknipsten Fotos – zeigt kleine Angebote, die wieder in die Metropole Einzug halten, um das einzulösen, was Thomas Sieverts unter Urbanität jenseits der Hektik von Konsummeilen einfordert: Toleranz, Weltoffenheit, Neugier und „einen besonderen Anlass, um sich entfalten zu können“. Dazu tragen spontan herbei geschaffte Bänke und Stühle (gerade auch jenseits eines fest installierten Stadtmobiliars) bei, von den Bewohnern aufgestellte Kübel, Gemüseanbau auf dem Dach, Spiele oder Picknick im Freien. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass dies nicht verboten ist, kein Geld kostet oder von Nachbarn torpediert wird, die sich gestört fühlen, weil etwas anders ist als gewohnt. Und es bedeutet, dass die Bewohner sich nicht wie Touristen verhalten, sondern sich für ihre Hinterlassenschaften verantwortlich fühlen, sich für nicht kommerzielles Tun begeistern und keiner auf die Idee kommt, daraus prompt wieder ein Geschäft machen zu wollen.
Ein anrührendes Beispiel aus dem Ruhrgebiet zeigt Andreas Weinand mit „The Good Earth“ (2013, Peperoni Verlag). Hier sieht man zwei alte Leute, die nach einem im Büro verbrachten Berufsleben, das Bio-Gärtnern an der Peripherie, auf einem Acker zwischen Essen und Mülheim für sich entdeckt haben. Ihre Körperhaltung bei der Arbeit ist nicht die von Bauern, die lebenslang auf dem Feld geackert haben, sondern die von Amateuren, im alten Sinn des Wortes. Sie frönen einer, wenn auch arbeitsintensiven und Rücken belastenden Liebhaberei, die sie selbst gewählt haben, ohne sich gleich wieder einem Schrebergartenreglement zu unterwerfen. Als Rentner dieser Generation geht es nicht mehr um die Sicherung der Existenz, auch wenn die Ausgaben sich vielleicht doch einspielen sollten, sondern darum etwas Lebendiges entstehen zu lassen. Dies geschieht im Kontrast zum bisherigen Leben und hat von der gelassenen Haltung, der Neugier auf eine alternative Lebenserfahrung etwas durchaus Urbanes, im alten, weltoffenen, experimentierfreudigen Sinn.
zuerst veröffentlicht am 15.01.2014 auf www.emscherplayer.de