Barbara Klemm, Erika Sulzer-Kleinemeier, Abisag Tüllmann und Angela Neuke, Tata Ronkholz oder Inge Rambow – sie alle verbindet eines: Ihre Kindheit war vom Krieg überschattet, sie haben Zusammenbruch und Wiederaufbau erlebt und analysieren mit ihren Fotografien, was Menschen zusammenhält.
Dokumentarfotografie bedeutet mehr noch als rein künstlerische Fotografie ein persönliches Bekenntnis der Fotografin. Sie zeigt, was sie vor Ort mit der Kamera sieht, nimmt uns mit, wenn sie unterwegs ist. Ihr Blick richtet sich bevorzugt auf das, was ohne Aufhebens geschieht, sich im Alltagsgeschehen oder in ritualisierten Abläufen so offensichtlich unsichtbar gemacht hat, dass es der Wahrnehmung entgleitet. Holt sie es wie beiläufig und doch mit Absicht ins Bild, so wird jenseits der Fotografie von besonderen Ereignissen und jenseits des Tagesgeschehens im Bildjournalismus eine Welt sichtbar, die im Vorübergehen und im Hier und Jetzt ihre ganz spezifische Qualität besitzt: Es entstehen unter ihrem Blick miteinander korrespondierende «Biotope», die inmitten des gewohnten Ablaufs dezidiert, wenn auch zunächst kaum merklich Aussagen über das Gesamte treffen: Dokumentarfotografie zeigt Menschenwerk gerade dort, wo man gewohnt ist, Funktionales zu sehen, und führt damit doch umso eindringlicher die zeit- und kulturspezifischen Bedingungen menschlicher Haltungen vor Augen. Fragile Gegenräume kommen so ins Bild, die mit der Fotografie «aufgenommen» werden: Die Fotografin erkennt sie mit ihrer Kamera.
Lebenszeichen vom Rand
Schaut man sich Sibylle Bergemanns Schwarz-Weiss-Fotos vom hier gar nicht grauen, sondern in mannigfaltigen Mustern sich brechenden DDR Alltag an, so spürt man feine Strömungen, nimmt Selbstgewissheit im Desolaten wahr, Blicke und kleine Gesten, «Lebenszeichen vom Rand» nennt Jutta Voigt das. («Photographien», Edition Braus, 2006). So zum Beispiel, wenn Tanzende in einer Berliner Privatwohnung zu sehen sind, ein Mann mit dunkelrandiger Brille und Existenzialistenrolli, zwei junge Frauen im Partykleid, jeder tanzt für sich, die Bewegungen der Arme sind offen und ausdrucksstark, eine lockere, berührende Stimmung liegt über der Szene, man schreibt das Jahr 1972. Bergemanns Personen sind bei sich selbst, gerade auch dann, wenn sie lieber anderswo wären. Betonwände, die sich bereits zersetzen, marodes Strassenbild, Zelte, Kies: Die Bildhintergründe sind lakonisch, der Charme eines verregneten Sommers zeichnet die Atmosphäre von Bergemanns Modefotografien aus, die bei ihr eine geradezu dokumentarische Note bekommen. Ihre Fotofolge zu Herstellung und Aufbau der Statuen von Marx und Engels, die 1974 von der SED-Parteiführung in Auftrag gegeben und 1986 mit der Denkmalanlage des Marx-Engels-Forums in Berlin-Mitte eingeweiht wurden, zerlegt die einzelnen, recht surreal anmutenden Arbeitsschritte in formale Sequenzen, die das Monumentale geradezu entbeinen.
Barbara Klemms Strassenbilder («Strassen Bilder», Edition Nimbus, 2009) zeigen sachte verschobene Bilder des Eingedenkens: Menschen und Symbole, die sich aneinander stossen, so das verloren wirkende Standbild eines Heiligen vor dampfenden Kühltürmen in Tschechien. Eine Strassenszene aus dem Jahr 2000 in Vilnius: Zwei alte, bäuerlich gekleidete Frauen haben sich auf einer Betonbank vor einem parkierten Mittelklassewagen niedergelassen, rechts im Vordergrund ist ein Stand mit Devotionalien zu sehen, ein achtlos aufgestelltes Bild im beschädigten Rahmen zeigt einen segnenden Jesus. In ein lebendes Zeichen verwandelt die Komposition eine Aufnahme vor dem Haus eines Modelabels in New York (1992): Ein bärtiger, dunkelhaariger Mann kauert vor den gestylten Auslagen auf dem Boden. Die weisse Decke, in die er sich gehüllt hat, leuchtet vor der kühlen, dunklen Fassade und bildet einen Kontrapunkt zum geometrischen Muster der weissen Strassenmarkierungen auf schwarzem Asphalt, die den Bildvordergrund einnehmen. Oder ein surreales Rätselbild: Ein Mann im Anorak sitzt auf einem umgestülpten Blecheimer und hält eine Angelrute in den Gully, hinter ihm ist die historische Fassade eines Ladenlokals zu sehen («Prag», 1994). Der Betrachter fühlt sich bei Klemm wie ein Gast, der eingeladen worden ist, mit gebotener Zurückhaltung, ja Zuneigung zu betrachten, was zu sehen ist, aufmerksam und empfänglich gemacht für fremdes Leben – und für die Schönheit der Einzelaufnahme.
Ihre Bilder von Politikern sind zunächst Pressefotografie – und doch: Auch hier sind die Prämissen ein wenig verschoben. Klemm zeigt zwar Menschen in der Öffentlichkeit, aber doch mit Eigenschaften, die hinter der Schauseite wirksam bleiben und sie so in Kontrast zu ihrer direkten Umgebung setzen, als seien sie hier von der Fotografin für einen Moment in ihrer Eigenart erkannt worden.
Beunruhigende Präsenz der Dinge
Die fotografischen Aussagen von Helga Paris erscheinen zunächst etwas spröder, ihre Welt scheint schon etwas älter geworden, historischer zu sein, wenn auch nicht weniger beeindruckend. Helga Paris’ Aufnahmen aus der DDR widmen sich zum Beispiel der Industriestadt Halle im Dunst der Abgase (1983–1985), dem tristen Einerlei in den Gaststätten. Vor karger Kulisse bekommen Bilder im Bild wie Fotos, Kalenderblätter, Spiegel, Wandschmuck eine beunruhigende Präsenz, schale Versprechen, die nicht eingelöst werden können. Diese Fotos durften seinerzeit nicht ausgestellt werden, zu eindringlich zeigten sie, was man doch täglich in der Öffentlichkeit zu sehen bekam.
Organisierte Massen, die sich zu politischen oder kulturellen Anlässen zusammenfinden, interessieren Abisag Tüllmann, das Publikum von Fussballspielen ebenso wie eine Fronleichnamsprozession von Nonnen, die ernsten Blicks über eine Eisenbrücke in Frankfurt am Main schreiten («Bildreportagen und Theaterfotografie», Hatje Cantz, 2010), oder eine Parade von uniformierten zehnjährigen Knaben, die anlässlich der zehnjährigen Unabhängigkeit eines afrikanischen Staates vor dem Diplomatischen Korps aufmarschieren. Ihre Kollegin Erika Sulzer-Kleinemeier hat über Jahrzehnte Protestbewegungen in der Bundesrepublik begleitet, von der APO über die Anti-Atomkraft- bis zur Friedensbewegung. Ihre Fotos («Fotografien», Stroemfeld, 2007) sind teilnehmend, von innen betrachtet, sie kommentieren den «Alltag» des Protestes. Eine Studie aus den frühen siebziger Jahren zeigt einfachste Unterbringung und geselliges Leben von Arbeitsimmigranten aus der Türkei, Männer und Familien, Menschen, die trotz unwürdigen Bedingungen in abweisender Umgebung sich kleine Enklaven zum Leben schaffen.
Politischer Wandel
Deutsche Nachkriegsgeschichte wird neben den über die Zeit geretteten Dingen und Geschichten mehr und mehr zur Bildgeschichte, je weiter der historische Prozess fortgeschritten ist und zeitliche wie mentale Distanz entstehen kann (und je weniger die literarischen Werke der Zeitgenossen gelesen werden): Die Fotografinnen dokumentieren die offizielle Seite, die Inszenierung für das öffentliche Gedächtnis, aber mehr noch die liegengebliebene Geschichte, die inzwischen verschwundenen Behelfe für kleine Ausstiege aus dem bundesrepublikanischen Alltag. So die desolaten «Trinkhallen» von Tata Ronkholz im Ruhrgebiet, kleine Kioske oder Anbauten ans Wohnzimmer, die zum Alkoholausschank erweitert wurden; jeder Charme ist ihnen mit Nachdruck ausgetrieben, und doch werden sie dem einen oder anderen eine Art familiärer Zuflucht geboten haben. Ein Querschnitt durch die Lebensverhältnisse unterschiedlicher Generationen und Milieus bietet «Das deutsche Wohnzimmer» von Herlinde Koelbl. Schon der Titel lässt im Jahr 1980 durchaus darauf schliessen, dass der Blick nicht allzu freundlich sein wird. Kulturgeschichten «avant la lettre» schreiben diese Fotos, lakonisch das – gegenüber den anderen Kollegen der Düsseldorfer Becher-Klasse – noch im Dornröschenschlaf verharrende Werk von Ronkholz, parteilich das der erfolgreichen Herlinde Koelbl. Strukturen der Macht gilt ihr Interesse in den frühen achtziger Jahren. Ihre – von Interviews begleitete – Langzeitstudie zu Amtsinhabern in Politik und Gesellschaft, «Spuren der Macht», erschien Ende des Jahrtausends. «Die Verwandlung des Menschen durch das Amt» mit Angela Merkel, Joschka Fischer, Gerhard Schröder, Frank Schirrmacher hat sie bekannt gemacht. «Feine Leute» werden in ihrem gleichnamigen Fotografiebuch aus den achtziger Jahren bei gesellschaftlichen Anlässen gezeigt, eingepresst in merkwürdige Konventionen, überladen mit Pelz und Schmuck, viel nackte, weibliche Haut wird gezeigt, aufreizende Attitüden sind zu sehen ohne Rücksicht auf das Alter. Feine Leute scheinen nicht altern zu dürfen, oder sind sie vielleicht schon «von Geburt» alt? So, wie man von «altem Adel» spricht? Ähnliche Maskeraden nimmt Angela Neuke aufs Korn, sie untersucht ebenfalls in den achtziger Jahren mit ihrem Projekt «Staatstheater-Mediencirkus» die – unter ihrem Blick – schäbig erscheinenden Rituale und Symbole bei Staatsempfängen. Wie im richtigen Zirkus verliert alles, sieht man es von ganz nahe, an Glanz.
Parallel zur zeitgenössischen Kunst
Nicht selten wurden solche Themenbände mit soziologischen Betrachtungen eingeleitet. Aber auch ästhetische Konzepte der Dokumentarfotografie unterliegen politischem Wandel, die Bildsprache der Dokumentarfotografie einer Zeit kann ausser Mode kommen, aber zu einem späteren Zeitpunkt auch wieder neu entdeckt werden. – Hilla Becher greift in ihren Arbeiten nicht auf Positionen der Gesellschaftswissenschaften oder auf tradierte Bildformen der älteren Kunstgeschichte zurück, sondern arbeitet parallel zur zeitgenössischen Kunst mit Strategien, die auch in der Minimal Art und der Konzeptkunst zu finden sind. So entstehen analysestarke Betrachtungsweisen, die auch die auf Verbrauch ausgerichteten, flüchtigen Hinterlassenschaften der Industriegesellschaft als gesellschaftliche Ausdrucksform begreifen. Selbst Industrielandschaften schaffen – ebenso wie gemeinsame Medienerlebnisse – Identitäten, Heimatgefühle, Zugehörigkeit, ohne die die Menschen nicht auskommen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Bernd erstellte sie ein visuelles Archiv der Industriekultur (ihre Edition im Schirmer/Mosel-Verlag umfasst heute 15 Bände). Mit ihren Aufnahmen von Anlagen der Grossindustrie, die der Versorgung mit Wasser und Gas, der Förderung von Kohle und der Stahlverarbeitung dienen, schufen die beiden ein Bewusstsein für die kulturgeschichtliche Bedeutung von Gebrauchsarchitektur.
Desolat und heroisch zugleich
Abfallprodukte der Schwerindustrie, die zum Teil hochgiftig sind, können aber auch Landschaften entstellen, sie zu «Wüstungen» (im Bergbau: verlassene Lagerstätten) werden lassen. Inge Rambow führt das 1991–1993 mit ihren ostdeutschen Landschaften vor Augen. Ihre Aufnahmen von Industrielandschaften zeigen zum Beispiel Brachen, die durch den Braunkohletagebau in Schkopau und im Umkreis von Leipzig entstanden sind. Zerklüftete Halden, Böschungen, wie mit dem Lineal gezogene Begrenzungen zum Grundwasser, das in unnatürlichen Farben schillert, das alles ist Produkt menschlicher Arbeit, desolat und heroisch zugleich. Rambow hat sich bei den Landschaftsaufnahmen, den «Braunkohlefolgelandschaften», ein Stück weit an den kompositorischen Prinzipien der frühen Landschaftsmalerei orientiert: hochgezogene Horizonte, statt Staffage finden sich bei genauem Hinsehen verrostete Rohre oder Autowracks auf dem Bild. Mit dem Horizont als «Weltrandzone» verbindet sich für Inge Rambow die «räumliche Vorstellung, dass auch Erkenntnis nicht unendlich ausweitbar ist». Interesse für Mensch und Menschenwerk eint die Generation der um 1940 geborenen, hier vorgestellten Fotografinnen. Jede von ihnen zeichnet eine souveräne, fast alle eine überaus grosszügige Haltung gegenüber ihrem Gegenstand aus. Pathos, die grosse Geste ist nicht ihre Sache, umso vertrauenswürdiger ist ihr Werk.
Sibylle Bergemann
Jutta Voigt «Photographien», Edition Braus, 2006
Barbara Klemms Strassenbilder «Strassen Bilder», Edition Nimbus, 2009
Helga Paris
Abisag Tüllmann «Bildreportagen und Theaterfotografie», Hatje Cantz, 2010
Erika Sulzer-Kleinemeier «Fotografien», Stroemfeld, 2007
«Das deutsche Wohnzimmer» von Herlinde Koelbl
Ronkholz «Spuren der Macht», «Die Verwandlung des Menschen durch das Amt», «Feine Leute»
Angela Neuke «Staatstheater-Mediencirkus»
Hilla Becher 15 Bände
Inge Rambow «Braunkohlefolgelandschaften»
zuerst erschienen: Neue Zürcher Zeitung 28. April 2012