Ausstellung von Thomas Kellner in der Art-Galerie in Siegen

Online gehaltene Rede zur Ausstellungs-Eröffnung am 14.02.2021:

Ich begrüße Sie zur Ausstellung von Thomas Kellner in der Art-Galerie in Siegen, der Stadt in der Thomas Kellner seit Jahrzehnten lebt und arbeitet.

Wer mit Leib und Seele in der Geschichte der Fotografie zuhause ist, wird sich nicht wirklich darüber wundern, weshalb Thomas Kellner, gerade in Siegen sein Atelier unterhält. International als Fotograf unterwegs ist er für seine Architekturaufnahmen von berühmten Bauwerken bekannt geworden. Selbst ein begeisterter Tänzer, scheint er auf seine Weise mit Kompositaufnahmen, die ein Bauwerk Stück für Stück segmentieren und leicht schwingend wieder zusammensetzen, Philosophie und Kunstgeschichte zum Tanz zu bitten. Mit seiner Profession hätte ihm die ganze Welt offengestanden. Als Fotograf, der konzeptionell arbeitet und eine akademisch-künstlerische Ausbildung genossen hat, wählte er dennoch eine recht überschaubare Universitätsstadt zu seinem Lebensmittelpunkt. Und das ist wohlbegründet und gut so – und war, wie Thomas Kellner darlegt, nicht nur eine private Entscheidung. Ein ganz besonderes Band verbindet ihn mit Wohnsitz und Arbeitsstätte, Sie werden es erraten: Gleich drei für das zwanzigste Jahrhundert überaus folgenreiche Akteure, die zwei voneinander unabhängige ästhetische Positionen entwickelt haben, verdanken ihre Inspiration der, nennen wir es der Einfachheit halber „Provinz“ – ohne es jetzt despektierlich zu meinen, sondern lediglich in Abgrenzung zum Kulturgeschehen in den „Metropolen“. Da wäre zunächst August Sander zu nennen. Er hat mit seinem Schlüsselwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ während der Weimarer Republik und danach wegweisende Porträts geschaffen, aber auch (nicht ganz so bekannte) Landschaftsaufnahmen von Saar, Eifel, Mosel, dem Niederrhein und anderswo sowie Architekturfotografien. Und als zwei weitere, gleichberechtigte Wegbereiter: das Fotografenpaar Bernd und Hilla Becher, deren Verdienst für eine allmählich in Gang gekommene Wertschätzung von Gebrauchsarchitektur gar nicht hoch genug angesetzt werden kann. Zuerst denkt man beim Namen Becher an Industrieanlagen. Der Ausgangspunkt ihres Werkes indes waren einfache, regionale Häusertypen, errichtet für die in den Bergwerken und Industrieanlagen arbeitende Bevölkerung, inmitten eines eigentlich bäuerlichen Umfelds. Siegen nahm hier eine besondere Position ein: Die Stadt ist der Schauplatz für ihre zu Tableaus geordneten Aufnahmen der inzwischen zum fotografischen Bildgedächtnis zählenden „Eiserfelder Fachwerkhäuser“. Thomas Kellner hat mehr als 45 Jahre nach den ersten Aufnahmen der Bechers diese Fachwerkhäuser im Auftrag des Siegener „Museums für Gegenwartskunst“ im damaligen Erhaltungszustand erneut fotografiert. Daraus enstand ein Flyer, der unter dem – nicht ganz leicht von der Zunge gehenden – Titel „Fachwerkhäuser des Siegener Industriegebietes. Rundgang Eiserfelden anhand der Fotos von Bernd und Hilla Becher“ vom Museum herausgegeben wurde. Auf diesen Aufnahmen fußt der neue Werkkomplex, sie bilden das Ausgangsmaterial der hier gezeigten Arbeiten.

Nüchtern und sachlich, das immer gleiche Setting für die Aufnahmen, grauer Himmel, kein Schattenwurf, möglichst wenig Sichtbares aus der Umgebung – so sah das wohlbekannte konzeptionelle Vorgehen von Bernd und Hilla Becher aus. Ihre ordnende, wenn auch noch etwas tastende, unsichtbare Hand war schon 1960 bei den frühen Aufnahmen der Eiserfelder Fachwerkhäuser zu erkennen, die in ihrer späteren, sanierten Gestalt Gegenstand von Thomas Kellners Tableau geworden sind.

Nach Vorlage der Becherschen Bilder hat Kellner 16 der noch existierenden Fachwerkhäuser in Eiserfeld zum Ausgangspunkt seines künstlerischen Eingriffs gewählt: Er nahm einen dezidiert zeitgenössisch reflektierten Bruch der Becherschen Konzeption vor.

Anordnung zum Tableau, Ausrichtung der Kamera und Bildgegenstand: Wir blicken auf das fotografiehistorisch und kulturgeschichtlich einschneidende, archivarische Vermächtnis der Bechers. Und doch befinden wir uns, ästhetisch und fototechnisch gesehen, unweigerlich im 21. Jahrhundert, wenn wir Kellners Aufnahmen betrachten. Wir stehen mit einem Fuß, rein vom Ort und vom Objekt her, in der Becherschen Welt, auch dann noch, wenn nur Dachform und Grundkörper eines Hauses mehr als ein halbes Jahrhundert später der Zeit stand gehalten haben. Aber mit dem anderen Fuß befinden wir uns wohlverankert im vielschichtigen fotografischen Kosmos von Thomas Kellner.

Farbliche Brechung
Ein eigenwilliges Prisma ist mit der farblichen Brechung entstanden. Denn heute erscheint uns die Übersetzung der farbig wahrgenommenen Lebenswelt in das abstrahierende Schwarzweiß der Fotografie nicht mehr als selbstverständlich. Wir nehmen sie nicht mehr als geradezu natürlich erscheinende Voraussetzung für dokumentarische Objektivität wahr. Das unterscheidet uns zeitgenössische Betrachter*innen grundlegend vom künstlerischen Erfahrungshorizont der frühen 1960er Jahre. Thomas Kellner hat seinen Aufnahmen nachträglich die Farbe genommen, bis auf kleine Farbirritationen. Sie durchbrechen die Grautöne des Bildes und markieren Hinterlassenschaften der Bewohner oder situationsbedingte Details. Der Hintergrund von Kellners Bildern ist in Unschärfe belassen, mit ganz leichten Farbreminiszenzen. Die Bechers indes hatten seinerzeit, um das Erfassen der architektonischen Typologie nicht zu stören, sorgfältig darauf geachtet, Hinweise auf die Nutzung zu vermeiden. Allenfalls ein Sandhaufen vor der Haustür oder ein ins Bild gekommenes Gärtchen erinnern an die ständige Werkelei, die ein altes Haus erfordert. Die mit der Großformatkamera aufgenommenen Aufnahmen der Bechers sind überdies durchgehend scharf.

Gleichförmigkeit der Fassaden
Die allesamt mit Platten (traditionell Schiefer, später auch Mineralfaserplatten) verkleideten und bedachten Häuser wirken in Kellners Bearbeitung wie Spielzeughäuschen, man denkt vielleicht an die Umgebung für eine Modelleisenbahn.

Was wir heute vor uns haben, sind unscheinbar daherkommende, historische Häuser mit (schon damals aus vorgefertigten Teilen zusammengesetztem) Ständerfachwerk, deren Äußeres durch energetische und bauliche Sanierungsmaßnahmen verändert wurde. Man erkennt nicht mehr wie Fensteraufteilung, Türen und Fassaden einst ausgesehen haben, nach welchem übergreifenden Prinzip sie einmal gestaltet wurden. Bei einigen Häusern ist es augenfällig, dass das modernisierende Vorgehen, architektonisch betrachtet, fragwürdig war. Über die meisten gleitet der Blick indes mit einem Schulterzucken einfach hinweg. Gerade mal eins der gezeigten Häuser ist von den Proportionen der neu eingebauten, gedämmten Fenstern und Türen her gesehen, in sich stimmig.

Thomas Kellner fordert in seinen Architekturaufnahmen von berühmten historischen Gebäuden Abschnitt für Abschnitt werkübergreifend zum ganz genauen Analysieren der Einzelbestandteile auf, in einer Art und Weise, wie es nur durch Komposit-Fotografie und künstlerische Komposition möglich wird.

Auch beim Betrachten der vergleichsweise übersichtlich aufgebauten Tableaus der umgestalteten Eiserfelder Fachwerkhäuser gilt es den Eindruck von neu verlegten Platten und mit ungegliederten Fenstern sanierten Fassaden zu analysieren. Sie wurden größtenteils um ihren Ausdruck gebracht, selbst wenn noch das für die Region typische Schiefer für Fassade und Dach verwendet wurde. Allerdings kamen in den Siebziger Jahren wie andern Ortes auch Mineralfaserplatten dazu. Auch weicht die dekorative Deckung mit Wellen, Waben oder Rauten gleichförmigeren Gestaltungselementen.

Sind die Bauherren womöglich alle vom gleichen über Land reisenden Verkäufer beraten worden, ist man geneigt zu fragen? Das quadratische Format des gewählten Tableaus, in dem die Bilder zu vier Vierergruppen angeordnet sind, verstärkt den konformen Eindruck der modernisierten Häuserfronten: quadratisch, praktisch, wenn auch selten gut.

Was sagt diese ästhetische Nivellierung über eine Zeit aus, eine Kultur, die Verbundenheit mit einem Ort? Nimmt gar der Fotograf mit seiner Konzeption den Häusern etwas von ihrer Identität? Nein, auflockernde Verschattungen und die Unschärfe des Hintergrunds auf den Aufnahmen mildern sogar ein wenig die Verdrossenheit, die einem beim Nachdenken über den Wandel der Baukultur und angesichts der hohen Kosten für qualitativ hochwertige und ästhetisch ansprechendere Lösungen befallen mag. Ist es also auch ein Lehrstück darüber, was geschieht, wenn uns der Sinn für Proportionen und gewachsene architektonische Formen, abhanden gekommen ist? In Deutschland jedenfalls wird wenig zur ästhetischen Schulung von jedermanns Auge in Sachen Architektur unternommen.

Suchbilder
Thomas Kellners Bilder laden in zweifacher Weise dazu ein, die bearbeiteten Aufnahmen als eine Art Suchbild zu verstehen: zum einen nach den Formprinzipien, die beim Anblick der umgestalteten Häuser in Vergessenheit oder sagen wir in eine Schieflage geraten sind. Wo genau stimmt etwas nicht, wenn es der Fassade an Schlüssigkeit gebricht? Gleichzeitig ermuntert die Suche nach den Ursachen der ästhetischen Tristesse zu einer historischen Betrachtungsweise: Wie sahen die gleichen Fassaden noch Mitte des vorigen Jahrhunderts aus, zu dem Zeitpunkt als die Bechers sie fotografiert hatten?

Der historische Vergleich mit den Becherschen Vorlagen zeigt besonders, wie rücksichtslos das Vorgehen der Sanierer war. Und es zeigt, was wir eingebüßt haben, im unerschütterlichen Glauben daran, etwas zu verbessern: Nicht nur handwerklich solide gearbeitete Holztüren verschwinden, Sprossenfenster weichen energetisch besser ausgewiesenen, ungegliederten Fenstern, sondern es wird damit auch zugleich die frühere Anordnung entscheidend verändert, ja entstellt. So baute man zum Beispiel anstelle von paarweise geordneten Fenstern ein einziges großes Fenster ein. Grundsätzlich wurde das Verhältnis von Höhe und Breite der Fenster geändert. Sie wirken jetzt im Gegensatz zur vorherigen, schlanken Anordnung, klobig. Im schlimmsten Fall wurden schmucke, kleine Ziergiebel und Rundbögen über den Fenstern und der Tür abgerissen und stattdessen ein banales Ladengeschäft mit breiten Fenstern im Erdgeschoss eingebaut, das inzwischen als Praxis oder Wohnung zu dienen scheint.

Treten wir wieder einen Schritt zurück und betrachten das ganze Arrangement.

Der Fotograf hat in dieser Modellwelt – im ästhetischen Sinn verstanden – wohlüberlegt mit uns „gespielt“: mit unseren Erwartungen, mit der Transformation in Schwarzweiß, den Verschattungen, dem Fokus auf farbig gebliebene Details, der verträumten Unschärfe im Hintergrund und dem Suchbild, das ein solches Tableau impliziert: Was haben wir verloren, was haben wir imaginiert? Was könnten wir ändern? Schauen Sie genau hin!