Aller technischen Innovation zum Trotz wirkt die Fotografie unserer Tage wie aus einer anderen Zeit
Historische Techniken und Darstellungsformen in zeitgenössischer Fotografie reflektieren die Geschichte der Fotografie und verweisen auf das verstörende Potenzial des scheinbar so objektiven Mediums.
Bereits als relativ junges Medium hat die Fotografie ihre eigene Geschichte in den Blick genommen. Der «Nebel der Frühzeit», der nach Benjamin über dem Beginn fotografischer Tätigkeit ausgebreitet liegt, weckt, wie Wolfgang Kemp in einem Essay bemerkt, bereits Mitte des 19. Jahrhunderts das Interesse der Fotografen an der Historie ihres eigenen, gerade erst den Kinderschuhen entwachsenen Mediums. Der Mythos des Anfangs lässt sich für die Fotografie nicht auf eine einzige Erzählung zurückführen. Er verzweigt sich in viele Geschichten, enthält liegengelassene, von der Entwicklung überholte, aber auch zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffene technische Verfahren.
Besonders wichtig scheint diese Rückversicherung im Blick auf die eigene Geschichte für ein Medium zu sein, das seine Faszination der Erscheinung verdankt: der sprachlosen Überwältigung durch eine visuelle Botschaft. Der Fotograf wählt eine Perspektive, zeigt den Ausschnitt eines «Schauplatzes» in einem ganz bestimmten Licht, lässt uns Bekanntschaft mit Unbekanntem zuteilwerden. Und zugleich verliert die eigene Kenntnis von einem bekannten Ort, einer bekannten Person, einer Zeit wie in einem Kaleidoskop an Gewissheit – mit jeder Aufnahme, die betrachtet wird.
BILDER EINER VERGANGENEN EPOCHE
Die Geschichte der Fotografie ist Kulturgeschichte par excellence: Sie enthält die Geschichte der von den neuesten Entwicklungen bald schon überholten Techniken, die aber doch ganz besondere, zu späteren Zeiten wieder geschätzte handwerkliche und ästhetische Qualitäten aufweisen. Sie erhellt die Geschichte wechselnder Alltagskulturen und illuminiert das tägliche Leben vergangener Zeiten. Sie dokumentiert unterschiedliche Praktiken der Repräsentation im sozialen Raum und damit die visuell kommunizierte Selbstversicherung der Vertreter einer Epoche. Sie schreibt aber auch an einer Geschichte wechselnder, aus der Mode gekommener, dann wieder aufgegriffener ästhetischer Darstellungsformen: Fotografische Bilder werden nach immer wieder neu konzipierten ästhetischen Prinzipien gestaltet, und ihr Erscheinen wird unbefangener rezipiert als traditionelle Medien wie Malerei und Skulptur.
Die grossen Linien der publizistischen Auseinandersetzung um die Fotografie, um das Sehen in der Fotografie bewegen sich entlang eines unerschöpflichen Fundus von Fragen: Soll Fotografie in erster Linie ästhetisch rezipiert und betrachtet werden? Oder stellt sie nicht eher eine historische Gebrauchsweise dar, die von der Fahndungsfoto bis zur ethnographischen und medizinischen Inventarisierung eine sachorientierte, oft aber auch bedenklich von Ressentiments geprägte Dokumentation eines Standpunktes vermittelt? Handelt es sich um ein Medium der inszenierten und respektierten Täuschung oder gar um ein metaphysisches Unterfangen, das besonders in der Erinnerungsfoto zeitlich mehr dem Vergänglichen und dem Tod als dem Leben zuneigt? Kann man wie bei der physikalischen Erklärung des Lichtes je nach Phänomen einmal die eine, einmal die andere Sichtweise einnehmen?
Was aber geschieht, wenn – vor dem Hintergrund der heutigen Entwicklung, in der automatisch (also ohne das Auge des Fotografen) produzierte oder digital bearbeitete Bilder den Realitätsstatus oder die Wirkung eines Bildes ständig untergraben – der Betrachter mit Fotografien konfrontiert wird, die auf den ersten Blick ästhetisch und technisch wie aus einer anderen Zeit, einer längst vergangenen Epoche, herüberzublinzeln scheinen?
Jenseits der nüchternen Maximen der Düsseldorfer Becher-Schule, die mit ihren konzeptionell strukturierten Bestandsaufnahmen der uns umgebenden Gebrauchsarchitektur am ungeheuren Aufschwung der Fotografie in den letzten Jahrzehnten massgeblich beteiligt war, gibt es eine Reihe von zeitgenössischen Fotografen wie Chuck Close, Elger Esser, Hiroshi Sugimoto, Joel- Peter Witkin, die Darstellungsformen aus dem 19. Jahrhundert aufgreifen und anverwandeln. Sie paraphrasieren Beobachtungsstandpunkte der Tafelbildmalerei eines Vermeer, Rubens oder Velázquez, arbeiten mit historisch gewordenen fotografischen Techniken oder beziehen sich in ihren Landschaftsaufnahmen auf Ansichten früher Reisefotografie.
TRAUMA UND REFLEXION
Zwei Tendenzen sind hier auszumachen: Zum einen ist es das Moment des Unheimlichen, ja fast Traumatischen, das dieser (scheinbare) Anachronismus bewirkt. Zum anderen enthält er aber auch eine Reflexion über das Verhältnis von historisierenden technischen Verfahren und dem Eindruck der zeitlichen Ferne, die sie bewirken, wenn man sie heute einsetzt. Dies geschieht in besonderem Masse dann, wenn noch nicht allzu lang Vergangenes zu sehen ist, zum Beispiel wenn Reiner Leist («Window Eleven Septembers 1995-2005», 2006) über zehn Jahre hinweg Tag für Tag mit einer historischen Plattenkamera aus dem Fenster eines New Yorker Apartments die Silhouette der Stadt fotografiert. Was wir sehen, scheint Patina angesetzt zu haben, weil wir mit dem Objektiv der Kamera auf ein zwar zeitlich gar nicht so weit zurückliegendes Geschehen blicken, dies aber mit dem «technischen Auge» der Kamera des 19. Jahrhunderts tun. Kleine Hinweise auf die Gegenwart, wie ein Laptop, der einmal auf dem Fensterbrett liegengeblieben ist, fügen sich nahtlos ein, aber eine Lücke springt ins Auge: Am 11. September 2001 war Leist ausser Haus und hat erst am folgenden Tag die Rauchwolke, die über der Stadt zu liegen kam, fotografiert.
Amin El Dib, der als Kind längere Zeit in Ägypten verbrachte, besucht als Erwachsener mit seiner eigenen Familie in den neunziger Jahren die Touristenattraktionen wieder («Eine Reise nach Ägypten», 2002) und hat neben den eigenen Erinnerungen auch den Bildaufbau der Reisefotografie des 19. Jahrhunderts im Kopf. Historisches und Gegenwärtiges, Darstellungsform und Erinnerungsbild verdichten sich in diesen Bildern, die das bereits Gesehene in der Jetztzeit zu begreifen suchen. Die Landschaftsaufnahmen Elger Essers, die beispielsweise Ansichten vom ländlichen Frankreich so zeigen («Veduten und Landschaften», 2006), wie sie nach den fotografischen Konventionen früher Postkarten überliefert wurden, versuchen den Orten die verlorene Strahlkraft wieder zurückzugeben, welche die touristisch noch nicht entdeckten Regionen damals verhiessen.
ZEITREISE
Auch der erste Eindruck von Chuck Closes Daguerreotypien zeitgenössischer Stars aus der Kunst- und Musikszene («A couple of ways of doing something», München 2006) ist der einer Zeitreise mit offenem Ausgang. Etwas Gespenstisches haftet diesen Porträts an, als sei man einem Menschen, den man nicht kennt, zu nahe getreten, weil man unversehens mit einem Bruchstück seiner Vergangenheit konfrontiert wird, das einen eigentlich nichts angeht. Betrachtet man diese Aufnahmen in einem Bildband, kommt, ähnlich wie bei der fotografischen Reproduktion von Malerei oder Plastik, noch ein zusätzlicher Effekt dazu: Die Abbildungen sind grossformatig und haben einen Medienwechsel durchlaufen: Die historischen Daguerreotypien passten in eine Schatulle, waren Unikate auf silberbeschichteten Kupferplatten. Nur bei einem bestimmten Lichteinfall sah man das (spiegelverkehrte) Bild. Aber das, was man sah, war gestochen scharf wiedergegeben. Wie es vor bald 170 Jahren den Menschen beim Anblick solcher Aufnahmen ergangen sein mag, lässt sich erahnen, wenn man die überlebensgrossen fotografischen Abbildungen von Chuck Closes Daguerreotypien betrachtet, der die lange Belichtungszeit durch eine extreme Beleuchtungsstärke kompensierte: «(. . .) wir haben eine Beleuchtungsstärke von einer Milliarde Fotocandle verwendet, und das tut richtig weh. Die Blitze sind so intensiv, dass es einem die Augen zuknallt. Es ist, als bekäme man einen Eispickel in den Augapfel gebohrt. Man riecht förmlich, wie das Haar brennt.»
Schärfe und Unschärfe geraten in ein Wechselspiel. Nur einzelne Partien des Gesichts sind in der Bildmitte überdeutlich modelliert, so dass jede Unebenheit zu sehen ist. Konturen und Umrisse verschwimmen und treten in das Dunkel zurück, aus dem uns das Porträt beim ersten Blick geradezu angesprungen zu haben scheint. Der Schrecken über die Schonungslosigkeit des Mediums, die Qual der Aufnahmepraxis mögen dem Schrecken des Menschen Mitte des 19. Jahrhunderts beim Anblick der ersten Daguerreotypien entsprechen, der von sich selbst kein oder allenfalls das idealisierte Auftrags-Bild eines Porträtmalers kannte.
GRENZÜBERSCHREITUNGEN
Anhaltende Verstörung aber geht von Fotografien aus, in denen die scheinbar festumrissene Grenze zwischen Lebendigem und Totem, Künstlichem und Organischem, aber auch von gemalten oder aus Wachs modellierten Bildern und fotografierten Menschen ins Wanken zu kommen droht, wie das bei den Aufnahmen von Hiroshi Sugimoto, Joel-Peter Witkin, Sarah Moon oder Cindy Sherman der Fall ist. Etwas Archaisches scheint mit diesen Bildwelten, die nicht von heute zu sein scheinen, über den Betrachter hereinzubrechen.
Deformierte Menschen in einer deformierten Welt, die den Albträumen vergangener Jahrhunderte entstiegen zu sein scheinen und doch vor unseren Augen im Hier und Heute Wurzeln zu schlagen im Begriff sind, zeigt Joel-Peter Witkin. Auf warm getöntem, sepiafarbenem Papier, die Negative sind zuweilen zerkratzt und übermalt, sind monströse Szenerien mit Masken und Prothesen zu sehen. Man hat diese Bilder – im weitesten Sinn – als Auseinandersetzung mit dem Tabu, dem Heiligen, der Religion gelesen, was wohl auch als ein Ausdruck tiefer Ratlosigkeit verstanden werden kann. Das Medium Fotografie scheint hier als Archiv dem Verfemten Aufnahme zu bieten. Es unterläuft die Distanz der ethnologischen oder medizinischen Aufnahmepraxis, die ihre menschlichen Untersuchungsobjekte wie ein Ding in den Blick genommen hat. Und doch scheinen Witkins Fotografien durch das historisierende Arrangement – wie in einer traditionellen Psychoanalyse – die Schrecken zu wiederholen, um den traumatischen Kern freizulegen. Sie fussen tief im Imaginären des 19. Jahrhunderts, man meint in all diesen Szenerien «altes Licht» zu sehen, wie Tucholsky einmal über die eigenartige Ausstrahlungskraft früher Fotografien bemerkte.
FREMD ANMUTENDER BLICK
In den Aufnahmen Sugimotos, der in Wachsfigurenkabinetten fotografiert und so eigenartige kulturelle Produkte präsentiert wie eine in Wachs gegossene Szenerie nach Vermeer («Das Musikzimmer») oder Leonardos «Abendmahl», die er in Madame Tussauds Amsterdamer Wachsfigurenkabinett und in Japan gefunden hat, begegnet einem ein fremd anmutender Blick auf die Meisterwerke abendländischer Kunstgeschichte. Auch Witkin hat in seiner deformierten Welt Werke aus der Kunstgeschichte als lebende Tableaus nachgestellt, während Cindy Sherman selbst in die Rolle der in der Malerei Porträtierten schlüpft und hier sämtliche Metamorphosen von der jungen zur alten Frau, vom Knaben zum Mann durchläuft. Wie sehr seine Fotografien auch ein Lehrstück über den medial gelenkten Blick der Neuzeit bedeuten, betont Sugimoto («Hiroshi Sugimoto», 2005): Bei seiner Aufnahme der in Wachs gegossenen Szenerie nimmt sein Stativ die Stellung der Staffelei ein und versucht mit dem Objektiv die Öffnung der Camera obscura einzustellen, mit deren Hilfe Vermeer die Positionen von Gegenständen und Menschen in seinem Bild arrangierte. Dabei entdeckte Sugimoto Unstimmigkeiten in der Anordnung der Dinge im Raum, die erst bei der nachgestellten Inszenierung der Szene, nicht aber beim Betrachten von Vermeers Bild ins Auge fallen.
Eine ähnliche Irritation, wie sie Sugimoto, der «ins Bild eingedrungen ist», geschieht, erfährt der Betrachter beim Anblick von Fotografien, die aufgrund des Sujets wie aus einer anderen Zeit zu kommen scheinen. Es handelt sich um altertümliche Arrangements, die Etappen der Erdgeschichte zeigen, aufgebaut in Schaukästen eines naturkundlichen Museums, die man aber nicht als solche identifizieren kann. Einen Ausflug in die Vergangenheit des museal erzogenen Blickes bieten diese Schwarzweissfotografien, sie lassen die zeitliche und räumliche Einordnung des Gesehenen ins Ungewisse abgleiten – das Museum erscheint als ein verstaubtes Archiv, das kurz aus seinem Dornröschenschlaf erwacht, wenn es ins Visier des zeitgenössischen Fotografen genommen wird.
Der Eindruck, dass die Zeit auf dem Bild wie eine Theaterkulisse verschoben wird, kann auch entstehen, wenn lange Zeit verpönte Edeldruckverfahren des Fin de Siècle wiederbelebt werden, wie Martin Pudenz («Licht im Himmel», 2004) dies mit seinen Bromöldrucken zeigt.
NOTWENDIGKEIT DER PATINA
Eine bestimme historische Ferne oder eine unwiderruflich in die Vergangenheit entrückte Form der Darstellung, eine spezifische ästhetische «Patina» ist notwendig, um diese Irritationen und Zeitdriften zu erzeugen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: die inszenierten, digital montierten Bildnisse von Loretta Lux («Loretta Lux», 2005). Kinder mit zu gross erscheinenden Köpfen sind in knappe, aus der Mode gekommene Kleidchen gesteckt. Puppengleich stehen sie in einer cleanen Umgebung, wie sie aus dem Werbefernsehen bekannt ist, und verkörpern mediale Projektionen einer Kindheit, in der alles künstlich ist. Ein Fenster auf die Geschichte der Fotografie und ihren imaginären Bildervorrat will sich aber hier nicht öffnen, auch wenn Anklänge an Kinderbildnisse aus der Geschichte der Malerei durchaus intendiert sein mögen.
Noch scheint sich der Blick in die Vergangenheit an einem fest umrissenen Kanon von historischen Darstellungsformen und Techniken zu orientieren. Dieser scheint in der Formensprache und den Imaginationswelten des 19. Jahrhunderts begründet zu sein, die ja bereits von industriell gefertigten Waren und expandierender Technik geprägt sind. Die Zeitreise ist eine doppelte: Ausgehend von den Gegenständen und Personen unserer heutigen Umgebung evoziert sie mittels der historisierenden Technik Bilderwelten aus der Frühzeit des Mediums. Und zugleich führt sie tief in die Traumwelt der Frühzeit des modernen Menschen, mit ihren Traumata und Sehnsüchten, die vielleicht immer noch nicht wirklich überstanden sind.
zuerst erschienen in: „Neue Zürcher Zeitung“ (Nr. 15/2008 Intern. Ausgabe 19./20.01.2008, S.30)