Farbige Schatten an der Leine einer Tänzerin: Man Ray in Wien

Einprägsam geformte Objekte artifizieller oder natürlicher Herkunft, gerne auch schon etwas in die Jahre gekommen, bilden den Ausgangsstoff traumverlorener Sequenzen im weltenthobenen Kosmos surrealen Schaffens. „Der Vater des Surrealismus war Dada; seine Mutter war eine Passage“ , schrieb Walter Benjamin in den „Pariser Passagen“. Aber noch ein weiterer einflussreicher Dritter stand an der Wiege Gevater: der Kubismus. Man Ray (1890-1976), Surrealist durch und durch, mit Marcel Duchamp und Max Ernst befreundet, arbeitete Zeit seines Lebens daran, die konischen Gebilde, simultan nebeneinander gestellten Perspektiven und Transparenzen der kubistischen Formensprache in surreale Bildideen zu transformieren – eine Ausstellung im „Kunstforum Wien“ zu Man Ray gibt dieser Seite des schwer zu greifenden, in unterschiedlichen Medien experimentierenden Künstlers Raum.

Kino im Kopf
Und dies ganz buchstäblich: Ein temporär in der Ausstellung aufgebautes Kino mit zeitgenössisch karger Holzbestuhlung und dunkelrotem Samtvorhang zeigt auf der großen Leinwand in der Endlosschleife Man Rays filmisches Schaffen der Zwanziger Jahre. Die vier experimentellen Kurzfilme bilden einen Schlüssel zur flirrenden Gedanken- und Bilderwelt des Surrealisten, der zuallererst wegen seines fotografischen Werkes seinen Platz in der Kunstgeschichte eingenommen hat. In hohem Tempo oder sehr langsamen, verschwommenen Einstellungen (manchmal war die Linse mit Gelatine eingerieben, um für die Zensur allzu Explizites ein wenig zu verschleiern) fließen spitze und kegelähnliche Formen ineinander, Frauenbeine in eleganten Seidenstrümpfen oder rhythmisch agierende Körper beim Sport; eine berühmte Szene zeigt die gespenstisch mit einem starr blickenden Auge bemalten geschlossenen Lider der Kiki von Montparnasse, sie schlägt sie nach einer Weile auf und lächelt herzzerreißend. In einem weitläufigen Chateau mit großen Fenstern und lichten Öffnungen spielen Herrschaften im Bademantel mit überdimensionierten Würfeln, deren Augen Spielkarten nachgebildet sind: Die eigenartige Stimmung am Drehort erinnerte Man Ray an ein berühmtes Gedicht von Stéphane Mallarmé „Der Wurf eines Würfels wird niemals den Zufall abschaffen“ (Un coup de dés jamais n‘abolira le hasard). Der Dichter gestaltete, wie später die Kubisten dies bei ihren Bildern taten, mit unterschiedlichen Schriftgrößen, ungewöhnlichem Satz und viel Leerraum zwischen den Worten die Buchseiten. Die Filme versammeln Objekte, kubische Formationen und literarische Anspielungen, die sich, als wären sie dem Film entstiegen, auf unterschiedlichen Bildträgern in Man Rays Werk beim Gang durch die Ausstellung erneut dem Betrachter zeigen.

Gezackte Farbflächen
Einen weiteren Schlüssel zu seinem Werk bildet ein großformatiges Tafelbild, welches das MoMA New York zur Schau beisteuerte: „The Rope Dancer Accompagnies Herself With Her Shadows“. Hier sehen wir gezackte, wie ausgeschnitten wirkende Farbflächen, die „Schatten“ oder Schattenrisse, die wir ähnlich als transparent einander überlagernde, schwingende Formen auch in den Siebdrucken „Revolving Doors“ bewundern können. Die langen „Schatten“ scheinen auf dem Gemälde ins Schwanken geraten zu sein. Kein Wunder, eine im kubistischen Bewegungstaumel gezeichnete kleine Seiltänzerin, ganz oben, nahe des Rahmens hält sie wie Hunde an einer Art Leine. Der Titel lenkt uns bei diesen Assoziationen. Und eine Bildbeschriftung von Duchamps „Akt, eine Treppe heruntersteigend“ (1913), einem Bild, das nach Vorlage einer Momenfotografie einzelne Bewegungsphasen übereinander schichtet, war es dann auch, die Man Ray zur Einsicht verhalf, wie wirkungsvoll ein Bildtitel für die Imagination sein kann. Eine kleine Kopie von Duchamps berühmtem Bild, das er erstmals in der New Yorker Armory Show zu sehen bekam, und die wenigen Zeugnisse der autonomen Zusammenarbeit mit dem befreundeten Künstler sind in Wien ausgestellt. Die Freunde verband nicht nur das gemeinsame Schachspiel (zwei von Man Ray entworfene Spiele werden gezeigt), sondern auch die konzeptionelle Geste oder das Primat der Idee, die ganz unterschiedlichen Bildträgern einwohnen kann. Das dicht geknüpfte Netz, das Man Ray in seinem sechs Jahrzehnte umspannenden Werk auslegte und in dem sich die Interpreten leicht verfingen, in der großen Spannweite der eingesetzten Medien zu präsentieren, bildet die charmante Grundidee der Ausstellung – man kann es auch trockener, dafür theoretisch anschlussfähig, wie im Begleitkatalog „Transmedialität“ nennen. Bleiben wir beim Bild des surreal anmutenden Fischernetzes. Hier haben sich, sozusagen vom Meeresboden der Imagination geschöpft, sonderbare Objekte eingefunden – Man Ray hat einige eigens für seine Fotografien oder Filme gestaltet. Wir sehen aber auch gleich zur Beginn der Ausstellung Fotogramme aus verschiedenen Werkphasen und später Gemälde, die oft stilistisch gesehen, eine Art Hommage an Bilder seiner Mitstreiter bilden. Unter dem Fanggut finden sich auch Studien und Transformationen mathematischer Objekte, für welche Man Rays Fotografien der Modelle des Mathematikers Poincaré, der nicht-euklidische Geometrien entwarf, Jahre später das Ausgangsmaterial bildeten. Sein Interesse daran war rein ästhetisch, Max Ernst hatte ihn seinerzeit auf die ungewöhnliche Sammlung aufmerksam gemacht.
Eine grafische Serie aus dem Spätwerk zeigt Spuren herabrinnender Milch. Das mag wie im Film die Anspielung an Mallarmés Poem an ein Gedicht („Il pleut“) des dem Kubismus zugetanen Dichters Apollinaire erinnern, dort tropfen Buchstaben wie Regenschlieren an Scheiben die Manuskriptseite hinab. Und natürlich darf auch das nicht fehlen, was wir mit Man Ray zuallererst verbinden: ungewöhnliche Porträtaufnahmen zeitgenössischer Künstler von Picasso bis Schönberg, Dora Maar bis Coco Chanel, Arbeiten mit Lee Miller als Modell und Kollegin, die eine enigmatische Erotik kennzeichnet, die dreifach übereinander erscheinenden, aufgerissenen Augen der Marquise Casati und ein späterer Abzug der berühmten „Violon d‘Ingres“, bei dem Man Ray den Rückenakt seines Modells Kiki mit zwei F-Löchern versah.

Wie Man Rays Tänzerin auf dem Gemälde zieht die Kuratorin Lisa Ortner-Kreil in der gelungenen Schau an den Fäden der farbigen Schatten – als unverzichtbare Begleiter des ungleich berühmteren fotografischen Werks kam ihnen in ihren jeweiligen Gestalten als Filme, Objekte, Gemälde und Zeichnungen in der europäischen Rezeption allzu lange nur eine Nebenrolle zu.
Kunstforum Wien bis 24. Juni 2018, Katalog Kehrer Verlag, 240 S., 32 Euro
zuerst erschienen in der F.A.Z. am 07.03.2018