Treibhäuser der Ideen

Niklas Maak beschreibt gesellschaftliche Utopien von Architekten, Johanna Diel setzt sie betörend schön ins Bild

Gebaute Gesellschaftsutopie mit schon in die Jahre gekommenen Materialien, aber immer noch von einem Hauch savoir vivre und liberté durchzogen, so ließen sich die Wohnkugeln, aufblasbaren Formationen und Terrassenhäuser aus den Sechziger und Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im philosophisch diskutierfreudigen und seinerzeit vehement der Zukunft huldigenden Frankreich beschreiben. Zwischen ständig im Umbau begriffen und bereits Ruine bewegen sich die Wohnvisionen, die Niklas Maak in seinem gemeinsam mit der Fotografin Johanna Diel herausgegeben Buch „Eurotopians“ den Nachgeborenen nahe bringt.

Die heute hochbetagten Architektinnen und Architekten (viele von ihnen bereits in ihren Neunzigern), die Maak fast alle noch zu ihren Lebzeiten aufsuchen kann, beschließen gelassen ihr experimentierfreudiges Leben in den eigenen Bauwerken. Mit Zuneigung und genauem Blick für die gesellschaftlichen Umbrüche, den Eigensinn und die kühnen Ideen vom wilden Leben in einer ersehnten postkapitalistischen Gesellschaft werden Yona Friedmann, die zu Unrecht vergessene Renée Gailhoustet, Claude Parent und vier weitere Architekten porträtiert. Sie alle haben mit maßgeblichen Entwürfen und Schriften die urbanistischen Debatten ihrer Zeit vorangebracht. Der Nachhall ihrer Ideen ist bis heute zu spüren, selbst wenn ihre Bauten und Materialien, nur bedingt dem gegenwärtigen Zeitgeschmack entsprechen mögen. So erscheinen sie wie Fundstücke und Werkzeuge aus einer anderen Zeit und man kann, wie Niklas Maak es formuliert, mit ihnen eine Art „Archäologie der Zukunft“ betreiben. Maßgebliche Ideen, wenn auch unter ganz anderem gesellschaftspolitischen Vorzeichen, werden in der heutigen japanischen Architektur mitunter spektakulär und hochästhetisch neu formuliert. Wenn Fujimoto in Tokio im Haus NA zwanzig Ebenen über kleine Treppenstufen verbindet, klingen Parents durch Rampen auseinandergenommenen Wohnebenen nach. Das Moriyama House in Tokio reaktiviere, so Maak, eine gebaute Wohnutopie von Cini Boeri, die Einzelräume auf einen gemeinsamen Wohnraum mit Loggia fokussiert hatte.

Besonders Impulse und know how aus Frankreich waren nicht nur für Plattenbau – der durchaus ja auch ein utopisches Element enthält – triste Betonvorstädte und Wohnmaschinen verantwortlich. Vom Gedanken an eine neue Gesellschaft beflügelt, versuchten dort lebende oder unkonventionell arbeitende Architektinnen und Architekten in Italien, die Wünsche nach zwangloseren Sozialbeziehungen und Aufbruch, in die von Mondfahrt und Technikglauben inspirierte Formensprache der Sechziger Jahre zu übersetzen. Und Maak benennt auch gleich zweimal eine große utopische Gesellschafts- und Architekturfantasie aus dem 19. Jahrhundert, die hier ein wenig Pate gestanden haben mag: Charles Fouriers Traum vom befreiten Leben in einer großen Lebens- und Liebesgemeinschaft, das kulturelle Leben im Schloss von Versailles vor Augen, aber hier verstanden als ein großes, permanentes Fest für alle.

Ob und wie mit unkonventionellen Baukörpern und flexiblen Innenräumen, mit Durchgängen und schrägen Wänden und Böden, mit schwebenden, temporären Häuten unsere sozialen Beziehungen verändert, ja sogar eine neue, von jeglichen Zwängen des steifen Sitzens und Repräsentierens befreite Körperkultur in jedermanns Alltag Einzug halten könnte, darüber wurde besonders in französischen Architekturkreisen debattiert. In kühnen Entwürfen vorbereitet, aber auch in höchst ungewöhnlichen, für ihre Bewohner recht gewöhungsbedürftigen Bauten realisierte man Prototypen. Das führte, wenn man sie denn überhaupt zuließ und ihnen nicht wie Claude Parent mit fehlenden rechten Winkeln, Bodenmulden und Schrägen gleich den Garaus machte bis hin zu den wegweisenden Möbeln von Cini Boeri die, wie Maak treffend bemerkt, durch das Haus „wuseln“ und immer wieder in neuen Kombinationen arrangiert werden können.

Das schön gestaltete Buch ist mit Verve, leichtfüßig dahingleitend und doch geschichts- und theoriebewusst geschrieben. Die Architekturfotografin Johanna Diehl versteht es, das Anliegen, aber auch die Verletzlichkeit der in die Jahre gekommenen Bauten in ihren Bildern so vor Augen zu führen, dass das Feuer der Innovation hier noch ein wenig weiter glimmt. Aber auch im Text scheint visuelles Erleben auf: Kleine persönlichen Beobachtungen evozieren ein eindringliches Bild im Leser. Zum Beispiel im Gedenken an Yona Friedman, dessen Entwürfe ganz selten realisiert wurden und der als der einflussreichste Architekt unter denen gilt, die selbst kaum gebaut haben. Seine wundersame Wohnung ist ein wuchernder Denkraum, eine Art Treibhaus der Ideen, jedem Minimalismus abhold. Es braucht mitunter nicht weiße Wände und leere Räume, um Ideen zu produzieren, sondern Vielfalt und Überlagerung, eine Ästhetik der Fülle und des Werdens. Architekturmodelle, Mitbringsel von Fernreisen, Notizen, Bücher finden sich in Friedmans Wohnung– von Johanna Diehl sind die filigranen Formen und das feine, stimmige Farbzusammenspiel der Gegenstände in betörend schönen Aufnahmen ins Bild gesetzt. Eine kleine Erinnerung, die Maak von einem früheren Besuch schildert, bringt das Denken in wechselnden Konstellationen, wie es uns Friedman mit seiner persönlichen Umgebung vorführt, auf den Punkt: Als die Katze des Hauses noch in den Hunderten von Architekturmodellen aus den Sechziger Jahren wohnte, war sie „wenn Friedman eines von ihnen aus dem Regal zog (…) erbost aus einer dieser Zukunftstädte herausgerast.“ Einprägsamer lässt sich das Verhältnis von Utopie und Geschichte mit dem Sprung des kleinen Stubentigers aus der vergangenen Zukunft in die Gegenwart nicht in Worte fassen.

Johanna Diehl, Niklas Maak: Eurotopians. Fragmente einer anderen Zukunft. Hirmerverlag 2017, 192 S., 140 Abb., 34.90 Euro

zuerst veröffentlicht in: Süddeutsche Zeitung 17.01.2018