Die Welt der Hafenstädte

6Michael Zibolds Fotografien wurden in großen Hafenstädten mit klingenden Namen aufgenommen: Lissabon, Istanbul, Hamburg, Marseille, Shanghai sowie in vierzehn weiteren Städten. Fast klingt es wie eine Rechtfertigung, wenn der Klappentext dann davon spricht, dass diese Auswahl eine mehr „zufällige“ als „beabsichtigte“ Klammer eint: Der Hafen spiele auf den Fotos, die innerhalb eines Zeitraums von zwanzig Jahren entstanden sind, eine eher beiläufige Rolle.

Klassische Hafensujets wie Schiffe, Kaianlagen, Fischernetze und Möwen befinden sich tatsächlich in der Minderzahl. Allerdings haben die Städte – bei aller geographischen und kulturellen Heterogenität – in der ständigen Gegenwart von Meer oder Fluss übergreifende Gemeinsamkeiten: Sie sind als Hafen- und Handelsstädte zuerst materieller Umschlagplatz von Waren und Menschen. Mit Fischereigewerbe, aber auch Prostitution sind sie Schauplatz harter körperlicher Arbeit. Ihre Verbindung zum offenen Meer schuf eine Projektionsfläche für Sehnsüchte nach Aufbruch und Weltläufigkeit, lange bevor die Welt global vernetzt war. Zibold zeigt das Unspektakuläre, aber visuell Reizvolle, das mehr über die Atmosphäre, das Licht, aber auch die Schattenseite einer Stadt auszusagen vermag als die Touristenattraktionen – es ist ein wenig wie mit Hotelzimmern: Sternehotels im historischen Zentrum bedienen Erwartungen, in einfachen Unterkünften in weniger besuchten Stadtteilen erfährt man etwas über die Bewohner.

Ähnliches geschieht beim Betrachten von Zibolds Fotografien: Sie zeigen das Individuelle im Alltagsgeschehen – bildlich gesprochen: eher die abgearbeiteten Hände als das zurechtgemachte Gesicht einer Stadt. Nicht immer ist das Entstehungsjahr einer Aufnahme klar; die Fotos, die in Neapel, Hamburg und New York gemacht wurden, umfassen Zeiträume von zehn und zwanzig Jahren und die Schwarz-Weißfotos (Silbergelatine auf Barytpapier) lassen kaum Rückschlüsse auf die Zeitumstände zu. Dennoch entsteht nach der Durchsicht des Buches der Eindruck, an der Seite des Fotografen einmal die Welt umrundet zu haben, sozusagen in einem (dem Auge nicht zugänglichen) Zeitraffer, der zwei Jahrzehnte umfasst. Man hat während dieser Zeitreise persönliche, wenn auch flüchtige Einblicke in fremde Lebensumstände gesammelt, der Fotograf hat sie in eine kompositorisch durch Licht und Schatten oder geometrischen Aufbau sorgsam austarierte Ordnung gebracht.

Istanbul zum Beispiel: Zwei Männer laufen den Kai entlang und tragen einen runden Spiegel wie eine Wunderkugel, aus der sich die Zukunft lesen lässt, ein Türmchen ist darauf zu sehen. In Lissabon führt ein Gang zum einfach ausgestatteten Barbier, zwei Spiegel zeigen ihn bei der Arbeit, aufmerksam verfolgen die Kunden das Geschehen. Auf dem nächsten Foto sehen wir einen versonnen drein blickenden Herrn mit schwarzer Fliege und Smokingjackett, ein Kronleuchter und seine Lichtreflexe rufen den Glanz vergangener Epochen vor Augen, möglicherweise handelt es sich um einen Kellner. Ein malerisch zerfetztes Segel fängt die Reflexe der untergehenden Sonne in Liverpool ein. Ein alter Mann in weißem Hemd und dunkler Stoffhose, dessen linkes Auge mit einem Verband zugeklebt ist, zeigt, als würde es sich um einen besonders großen Fisch handeln, ein gerahmtes Bild mit dem Kopf des Schmerzensmannes. Auch sein Auge ist lädiert: Wir befinden uns in Neapel. Und fast ist man einen Augenblick lang verführt, zu glauben, die einzelnen Szenen selbstständig den jeweiligen Städten zuordnen zu können, so atmosphärisch genau lassen sie sich auf das Geschehen ein.

Michael Zibold: Passagen. Kehrer Verlag Berlin 2011, 280 S., 48 €
zuerst erschienen: Mare Heft 85, April 2011